■ Bücher.klein
: 's kommt anders

Die Soziologie weiß heute weniger denn je, was eigentlich ihr Thema ist: „Risikogesellschaft“? „Erlebnisgesellschaft“? „Kulturgesellschaft“? „Vorsorgestaat“? Mit solchen Komposita, die heute die Einbände sozialwissenschaftlicher Grundlagenwerke zieren, lassen sich die Interessen der scientific community längst nicht mehr bündeln. Da kann es hilfreich sein, wenn man sich an fachfremde Beobachter wie den Ökonomen Albert O. Hirschman hält. Der hat in seinem Buch „Denken gegen die Zukunft“ (Hanser Verlag 1992), wie der Untertitel schon verrät, die „Rhetorik der Reaktion“ untersucht: Man kann dabei sehen, daß die Soziologie mit der Reaktion eine Passion teilt: das Interesse für die unerwarteten (und oft auch unerwünschten) Folgen zielgerichteten sozialen Handelns. Liest man Hirschmans konzise Studie, dann möchte man fragen, ob das nicht vielleicht eine schöne Definition der Soziologie wäre: Wissenschaft von den unbeabsichtigten Folgen gesellschaftlichen Handelns. „Wie ist Gesellschaft möglich?“ (Georg Simmel), wenn alles schief läuft, was man zur Verbesserung der Zustände unternimmt: Die Revolution endet in der Terrorherrschaft, die Prohibition im Massen-Alkoholismus, das allgemeine Wahlrecht in Hitler... Hirschman nennt diese Redefigur die „Sinnverkehrungsthese“. Sie ist das wichtigste Werkzeug der reaktionären Rhetorik.

Aber, aber, regt sich da der Liberale in dir: Das ist doch gräßlich „verkürzt“! So spricht unsereiner doch nicht! Das mag ja sein, sagt Hirschman in einem soeben erschienenen Aufsatz „Die Rhetorik der Reaktion – Zwei Jahre danach“, aber wie sollen Liberale, Reformer, Progressive dagegenhalten? Die progressive Rhetorik hat nämlich ihre eigenen Fallen. Hirschman widmet sich ihnen in seiner Selbst-Revision mit besonderer Aufmerksamkeit, denn im Zeitalter von Bill, Hillary und – wer weiß? – Rudolf geraten die Reaktionäre in die Defensive und die Reformer in die Vorderhand. Hirschman nennt drei klassische Fehler der Reformer: Die „Unheilsdrohung“ – das heißt die Befürwortung von Reformen vor dem Hintergrund einer dräuenden Katastrophe – seien es nun Skinheads oder die Schuldenlast der Dritten Welt –, die jetzt „einfach keine andere Wahl“ zulasse als die Politik der Reformer. Zweitens „der Lauf der Geschichte“, dem man sich besser nicht entgegenstellt. Mit dem Schema lockt man nach den ziemlich unerwarteten Ereignissen von 1989 keinen reaktionären Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Drittens die Behauptung, eine Reform würde eine frühere Errungenschaft unterstützen oder abfedern (Synergie), weil sich eben „alles Gute verträgt“. Was bekanntlich nicht nur eine politische, sondern auch eine erotische und kulinarische Irrlehre ist. Jörg Lau

„Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, Heft 6/1993, Akademie Verlag