Definitionsmacht zurückgewinnen

■ Die Dritte Welt muß lernen, ihre Probleme und Bedürfnisse selber zu beschreiben

Der Titel hätte auch als Programmauftrag für die Gatt-Unterhandlungen gepaßt: „Wie im Westen, so auf Erden“. Die 17 AutorInnen dieses Essaybandes zur Entwicklungspolitik, darunter Ivan Illich, Vandana Shiva und Ashis Nandy, nehmen sich die Mythen des westlichen Systems vor: Fortschritt, Entwicklung, Bedürfnis, Lebensstandard, Markt und Technologie. Sie präsentieren mit Verve die Instrumentalisierung dieser Mythen zum Vorteil des Nordens. Sie giften gegen die globalen, von den Industrienationen definierten Ziele.

„Entwicklung“ ist für Illich, Sachs und Co. die zentrale ideologische Figur des Nordens, seit US- Präsident Harry Truman 1949 im Namen dieser Formel zur Unterstützung des Südens aufrief. Herausgeber Wolfgang Sachs hat dafür schon in der Einleitung eine polemische Formel gefunden. Entwicklung ist für ihn die „Verständigungsgrundlage für die arroganten Eingriffe des Nordens und das jämmerliche Selbstmitleid des Südens“. Die staatlichen und ökonomischen Eliten des Nordens bestimmten zwar die Richtung, insinuiert Sachs, aber auch die Eliten des Südens haben sich diese Richtung bei der Unterwerfung ihrer lokalen Kulturen zu eigen gemacht. Entwicklung hieß immer zuallererst „Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung“. Das hatte der Ökonom Sadie schon vor 30 Jahren erkannt: „Man muß Unzufriedenheit und Unglück stiften, damit alle stets mehr verlangen, als verfügbar ist. Das wird Leid und Entwurzelung zur Folge haben, aber das ist der Preis der wirtschaftlichen Entwicklung – es führt kein anderer Weg zum Fortschritt.“

Eine Verbesserung der Lebensbedingungen hat diese Entwicklung den armen Massen des Südens nicht gebracht. Die meisten AutorInnen des Bandes agitieren gekonnt gegen den politischen Status quo. Neue, alte Wege, wie sie Koautor Gustavo Esteva entdeckt zu haben glaubt, werden in dem „polemischen Handbuch“ (Untertitel) dagegen nur wenige präsentiert. Der mexikanische Essayist und praktizierende Aussteiger beschwört den wachsenden Widerstand bei den Menschen vor Ort. Während Peace-Corps-Streiter und lateinamerikanische Dependencia-Theoretiker nur den Gegensatz von Entwicklung und Unterentwicklung in den Köpfen verankert hätten, „besinnen sich die Menschen auf die ursprünglichen Formen sozialen Austausches, um sich auf diese Weise den Zwängen der Ökonomie zu entziehen.“ Das Lernen müsse wieder im traditionellen kulturellen Rahmen stattfinde, damit Wissen wirklich Macht werden könne.

Viel wäre gewonnen, meinen die AutorInnen immer wieder, wenn die Menschen des Südens nur die Definitionsmacht über ihre eigenen Leben wiedergewännen. Armut, so argumentiert etwa der iranische Wissenschaftler Majid Rahnema, sei doch in traditionellen Gesellschaften gar nicht als Ausdruck des persönlichen Versagens begriffen worden. Erst im (protestantischen) Kapitalismus sei Armut zur Schande geworden.

Was aber sind eigentlich Bedürfnisse? Ivan Illich polemisiert gegen die Grundbedürfnisstrategie der internationalen Entwicklungsorganisationen. Sie erst habe „aus einfachen Leuten Bedürftige“ gemacht, sie umdefiniert, sozusagen. Erfordernisse, nicht Bedürfnisse, seien traditionell für das Leben dörflicher Gemeinschaften bestimmend gewesen. Doch diese „Herrschaft der Notwendigkeit“, die menschliches Leben auch unter Randbedingungen psychisch erträglich gestaltet hatte, sei mit dem Entwicklungsmythos feierlich verabschiedet worden. Eine ungeheure Legitimationsmacht habe diese neue Weltsicht den westlichen Hilfeleistenden verliehen. „Im Namen der Bedürfnisse konnten die Entwicklungsmanager ganze Kulturen zerstören, ohne um eine philanthropische Begründung verlegen zu sein. Und nun ist das ,Überleben des Planeten‘ als neues Ziel gesetzt, und die ,Überlebenserfordernisse des Systems‘ können als neue Feldzeichen aufgezogen werden.“ Unter diesem Feldzeichen werde inzwischen die globale Umwelt- und Bevölkerungspolitik betrieben, so besonders die deutschen AutorInnen. Die Bevölkerung sei für die Entwicklungsplaner zum endogenen Faktor geworden, beklagt Barbara Duden. Menschen würden gegen endliche Ressourcen ausgespielt.

Herausgeber Sachs sucht am Wuppertal-Institut mit einigen Kollegen nach einer lebensfähigen Alternative – einem neuen Wohlstandsmodell. Hermann-Josef Tenhagen

Wolfgang Sachs (Hg.): „Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik“, rororo-Taschenbuch, 1993, 480 S., 24,90 DM