■ Im konservativen Lager formieren sich neue Parteien
: Herr & G'scherr gehen stiften

Die Lücken auf dem politischen Markt werden geschlossen. Politische Kleinunternehmer investieren in neue Produkte, sprich: Parteien, und wollen schon im Superwahljahr die erste Rendite kassieren. Die führenden Großunternehmen namens Volksparteien sind beunruhigt und bangen fast gelähmt um ihre Marktanteile. Die Präsentation von Statt Partei, Bund Freier Bürger und vielen No- name-Produkten signalisieren einen Boom von Neugründungen, der freilich nicht der erste in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Das für Bonner Koalitionen konstitutive, lange Zeit „hyperstabile“ Dreiparteiensystem erweiterte sich schon Ende der 70er Jahre, als grün-bunt-alternative Bewegungen aufkeimten und sich zur „Anti-Partei“ der Grünen verbanden. Dabei ließ vor allem die sozialdemokratische Interessenkoalition aus gewerkschaftlich organisierten Facharbeitern und akademischer Dienstleistungsintelligenz Federn. Als nächste schnitt in den 80er Jahren die nationalpopulistische Rechte ein Stück aus dem Fleisch der noch lockerer zusammengesetzten und loser verbundenen Unionsparteien, die den „rechten Rand“ nicht mehr einbinden konnten. Überdies trat eine Strömung an die Oberfläche, die seit 1949 unterirdisch mitgelaufen war: ein mehr oder weniger orthodoxer Neonationalsozialismus. Wo sich Xenophobie und soziale Abstiegsängste vermengen, geht dieser Formierungsprozeß auch auf Kosten der Sozialdemokratie.

Wegner und Brunner, die beide aus dem liberal-konservativen Lager desertiert sind, versuchen nun, den Kern des Bürgerblocks zu zertrümmern – und sich bei Erfolg als Koalitionspartner aufzudrängen. Die feinverputzten Haarrisse bei Christdemokraten und Liberalen, die bei innerparteilichen Flügelkämpfen immer wieder sichtbar wurden, haben sich zu unübersehbaren Sollbruchstellen erweitert. Das raffiniert ausbalancierte Proporz- und Pfründensystem versagt – Herr & G'scherr gehen (Parteien) stiften. Mit ihren Angriffen auf den Filz und Antipathien gegen Europa haben sie Gratisthemen gefunden, die Stimmen bringen, ohne daß ernsthafte Alternativen aufgezeigt werden müßten – wer ist heutzutage kein Parteienkritiker, wer ist schon zufrieden mit der real existierenden Eurokratie? Die Neugründer sind nur Trittbrettfahrer der vermeintlichen Politikverdrossenheit – mit dem paradoxen Resultat, daß in Zeiten angeblichen Parteienfrustes immer neue Parteien ins Kraut schießen, deren bewiesene Eitelkeit und zu vermutende Inkompetenz die Legitimationskrise der Parteiendemokratie noch zuspitzen wird.

Man hüte sich, das „Phänomen Brunner“ hochzureden. Erst mal ist seine „Bürgerbewegung“ nur ein Gerücht – eine politische Virtualität, die bisher allein durch häufiges Vorkommen in der Berichterstattung real wurde. Aber der Bruderstreit im Hause Adenauer deutet auf tiefere Zerklüftungen hin. Daß sich Brunners Professoren-Riege auf den DM- Nationalismus geworfen hat, folgt nicht bloß dem Marktkalkül, wonach das Thema bisher schwach „besetzt“ ist und die Wählerschaft bei Europawahlen, sofern sie nicht zu Hause bleibt, erfahrungsgemäß experimentierfreudiger votiert.

Die Auflösung des liberal-konservativen Blocks legt weitere „Widersprüche des Konservatismus“ (Ulrich Beck) bloß, der keineswegs unbeschadet aus dem Ende des Kalten Krieges hervorgeht, wie sein penetrantes Siegerlächeln suggeriert. Ein Erfolg der Deutsch-Nationalen, die schlingernde CSU eingeschlossen, würde eine tragende Wand des bürgerlichen Antifaschismus einreißen, die das Europäische Haus gestützt hat: das von den Christdemokratien und Volksparteien Italiens, der Bundesrepublik, der Beneluxstaaten und seinerzeit auch noch Frankreichs getragene Bündnis europäischer Föderalisten der Mitte. Aus dem Widerstand gegen Hitler und seine Vasallen kommend, waren sie, mehr als Liberale und Sozialisten, Motoren der politischen Konföderation Europas; sie sammelten die Mehrheit des Bürgertums, die aus der Katastrophe des Nationalismus gelernt hatte. Gegen sie richtet sich von 1945 bis heute die wütende Polemik gegen den sogenannten „Westextremismus“, der im national-neutralistischen Mainstream der Friedensbewegung und bei „national gesonnenen“ Sozialisten, in der populistischen Europakritik und im primitiven Antiamerikanismus, ein naives Echo fand. Brunner, Haider, Thatcher und die ostmitteleuropäischen Nationalisten geben diesem geistigen Vorbehalt eine politische Form.

Es gibt bekanntlich wenig Anlaß, den deutschen Bundeskanzler politisch zu loben. Aber in dieser Frage ist er ein konsequenter „Andenauer-Enkel“, der sich bisher nicht auf den populistischen Pfad der „Euroskeptiker“ locken ließ. Instinktiv bringt er mehr Europaemphase mit als die nachfolgenden politischen Generationen. Er hat die europäische Dynamik immer gegen die destruktive Politik der konservativen Rechtsparteien (britische Tories, französische Gaullisten) verteidigt und somit auch der Versuchung widerstanden, eine ähnlich radikale (und katastrophal gescheiterte!) Rechtskehre vorzunehmen wie die Wendepolitiker Thatcher und Chirac. Jetzt steht er innenpolitisch vor einem Scherbenhaufen und hat die Anti-Europäer im eigenen Haus, ja sogar in der eigenen Partei. Über diese Schwächung des Kanzlers kann sich niemand freuen, der die Bundesrepublik nicht weiter auf die schiefe Ebene nach rechts abgleiten lassen will. Aber seine Regierung ist auch kein Garant mehr gegen das Umkippen der BRD in Richtung Alt-Deutschland.

Statt Partei und Brunner-Bund werden auch Wählerinnen und Wähler mobilisieren, die weniger antieuropäisch als partizipatorisch gesonnen sind und das innerparteiliche und innereuropäische Demokratiedefizit beklagen. Aus solchen Motiven sollte jedoch niemand den Neugründern trauen; sie mobilisieren nur den Anti-Affekt. Ihre programmatische Aussage ist überaus konventionell und wärmt die Mixtur von ultraliberaler Wirtschaftspolitik und autoritär-nationalistischer Politik wieder auf, die andernorts jämmerlich gescheitert ist. Eine inhaltliche Reformalternative, die die Bundesrepublik im Jahr 1994 dringend benötigt, entwickeln sie überhaupt nicht. Warum also sich bei konservativen Amateuren ein weiteres Mal frustrieren lassen? Der Frust, den sich eintrittswillige Bürgerinnen und Bürger in den großen Parteien oder bei den Grünen unvermeidlich holen, kann auch nicht größer sein. Aber eine selbstbewußte Bürgerschaft kann sie, auch wenn es prima facie nicht so aussieht, zu innerparteilichen Reformen und einer Politik des Wechsels drängen. Die Meinungsumfragen, die das flagrante Abbröckeln der Koalition und eine numerische Mehrheit für Rot- Grün signalisieren, dürfen nicht zu voreiligen Schlüssen verführen. Der Fatalismus des Jahres 1993, Kohl könne man sowieso nicht ablösen, schlägt viel zu rasch in den umgekehrten Fatalismus um, die Koalition sei bereits abgehakt und erledigt. Claus Leggewie

Der Autor ist Professor für politische Wissenschaften an der Universität Gießen