„Sie wollen mir ja bloß helfen“

Zum 100. Geburtstag Chaim Soutines ist dessen Werkeverzeichnis erschienen  ■ Von Stefan Koldehoff

Seit vor einigen Jahren das große Musée d'Orsay in unmittelbarer Nähe Quartier genommen hat, scheint das zweihundert Jahre ältere Musée de L'Orangerie zwischen Pariser Louvre und Place de la Concorde in einen Dornröschenschlaf verfallen. Nur wer weiß, daß die eigens für dieses Haus geschaffenen Seerosenpanoramen Claude Monets an den runden Wänden des stolzen Kastenbaus hängen, findet den Weg ans untere Ende der Tuilerien – oder wer weiß, daß hier eine der größten zusammenhängenden Sammlungen mit Werken von Chaim Soutine zu finden ist.

1893 in Smilovitchi, einem litauischen 400-Seelen-Dorf bei Minsk, geboren, hat der schon früh von seinen gläubigen Eltern mit Malverbot belegte Sohn des jüdischen Flickschneiders Salomon Soutine und seiner Frau Sarah in der offiziellen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts immer nur eine kleine Nebenrolle gespielt. Seine hart an der Grenze der Gegenständlichkeit entlang in expressivem Impasto auf die Leinwand gezwungenen Farbexplosionen wollten in keinen der gängigen Ismen passen und fanden nur schwerlich ihr Publikum. Nur wenige Privatsammler wie das Ehepaar Marcellin und Madeleine Castaing nahmen sich zunächst der Werke des 1913 gemeinsam mit dem Freund Michel Kikoine nach Paris gekommenen Bohemiens an. Modigliani hatte den Freund empfohlen. Der aber war zu schüchtern, die Castaings in seinem chaotischen Atelier in der Cité Falguière zu empfangen, klemmte sich statt dessen eines seiner Gemälde unter den Arm und verabredete ein Treffen auf dem Trottoir vor einem Café. Marcellin Castaing war beeindruckt von dem, was er im Schein einer Gaslaterne erkennen konnte, bat, aus einer größeren Zahl von Bildern auswählen zu dürfen und bot dem Maler vorab 100 Franc an. Soutine lehnte das Geld entrüstet ab und warf dem Sammler vor: „Sie mögen meine Malerei nicht, Sie wollen mir ja bloß helfen. Wenn Sie mir für mein Bild einen Franc gegeben hätten, hätte ich ihn genommen“, und brach den Kontakt zu den Castaings für mehrere Jahre ab.

Mit seiner eigenen Unvollkommenheit ständig unzufrieden, nahm sich Soutine fertige Leinwände immer wieder vor, um sie zu übermalen oder zu zerstören. Gemeinsam mit den Freunden Marc Chagall, Jacques Lipchitz, Henri Laurens, Fernand Léger und Amedeo Modigliani malte Soutine in der armseligen Künstlerkolonie „La Ruche“ lange Zeit ausschließlich für die eigenen Atelierwände. 1919 schickte der Kunsthändler Léopold Zborowski den Maler zum Landschaftenmalen nach Céret in die Pyrenäen. Mehrere Jahre lang entstanden dort Landschaften, die in ihrer pastosen Farbautonomie die innere Unruhe Soutines widerspiegeln. „Er war ein konzentrierter, überlegter Künstler, der seine emotionale Kraft in die Bahnen formaler Strukturen zu leiten versuchte“, beschreibt die amerikanische Kunsthistorikerin Esti Dunow den Kampf, den Soutine mit sich selbst austrug.

Der amerikanische Pharmamillionär Albert C. Barnes beendet schließlich im Winter 1922/23 Soutines Armut, indem er gleich ein ganzes Konvolut von Werken aus dem Atelier herauskaufte und in sein Museum nach Merion bei Philadelphia verschiffte. Noch heute befindet sich dort mit 21 Gemälden die größte zusammenhängende Soutine-Sammlung der Welt. Ganze drei seiner Werke hängen in Deutschland in den Museen von Berlin, Stuttgart und Wuppertal.

Der Barnes-Kauf machte Soutine auf einen Schlag in der Pariser Kunstwelt bekannt, und er ermöglichte dem Maler einen bescheidenen Wohlstand. Auf Soutines Arbeit wirkte sich dieser Reichtum allerdings nicht positiv aus: Die farblich helleren Werke, die zwischen 1922 und 1925 vor allem im südfranzösischen Cagnes entstanden, wirken weniger spontan gemalt als im Bemühen um Orientierung am Erfolg der früheren Bilder rational durchkomponiert. Soutine kehrte in die Hauptstadt zurück. Ein Angebot, das besetzte Paris in Richtung Amerika zu verlassen, lehnte der Jude 1940 ab. Mit seiner Freundin Marie-Berthe Aurenche, der ehemaligen Frau von Max Ernst, lebte er versteckt in Champigny- sur-Veude, bis den schon länger an Magengeschwüren leidenden 49jährigen am 9. August 1943 eine nach einem Magendurchbruch zu spät eingeleitete Operation in der Klinik von Dr. Olivier in Paris dahinraffte. Ob er nicht doch sehr viel Leid in seinem Leben erfahren habe, hatte den Maler noch kurz zuvor die Literatin Andrée Colline gefragt. „Nein!“ hatte der vehement geantwortet. „Wie kommst du darauf? Ich bin immer ein glücklicher Mensch gewesen.“

Mit Soutine und seinem Werk haben sich seither verschiedene Ausstellungen vor allem in den Vereinigten Staaten und in Frankreich – zuletzt 1989 in Chartres – auseinandergesetzt. Erst 1981 belegte eine unter anderem in Luzern, Tübingen und Münster gezeigte umfangreiche Retrospektive auch in Deutschland die Bedeutung Soutines für die Moderne. Ein Werkeverzeichnis als Grundlage für die weitere kunsthistorische Forschung fehlte bislang allerdings.

In zwei großformatigen Bänden hat dieses ehrgeizige Unternehmen jetzt der Kölner Benedikt Taschen Verlag gewagt. Nach mehr als 30 Jahre währender Recherche von den renommierten Kunsthistorikern, -händlern und Soutine-Forschern Esti Dunow, Klaus G. Perls, Guy Loudmer und Maurice Tuchman zusammengestellt, entfaltet er auf fast 800 Seiten die ganze ungestüme Kraft des frühvollendeten Autodidakten Chaim Soutine. Bis auf die vom Farbverbot ihrer Besitzer betroffenen Werke aus der Barnes-Foundation sind alle 497 nachgewiesenen Werke – geordnet nach den drei einzigen Themengruppen in Soutines ×uvre: Landschaften, Stilleben und Portraits – in brillanten Farben und meist ganzseitigem Format abgebildet. Die dreisprachigen Angaben zu den Gemälden entsprechen von Bildtitel, Malgrund und Material, Format und Entstehungszeit über die Provenienz, Auktionen und Ausstellung bis hin zu ausführlichen Literaturlisten allen wissenschaftlichen Anforderungen. Einleitende Aufsätze über Leben und Werk Soutines zeugen von der profunden Sachkenntnis der vier HerausgeberInnen.

Der grandiose Werkekatalog zum bei Taschen zur Unternehmensphilosophie gehörenden, trotzdem angesichts der inhaltlichen und drucktechnischen Qualität aber einmal mehr unglaublichen Niedrigpreis (andere Werkkataloge dieser Qualität kosten in aller Regel das Zehnfache...) läßt allerdings dennoch, wie schon die Retrospektive von 1981, einige wesentliche Fragen offen. Unklar bleibt trotz ansatzweiser Diskussion durch Esti Dunow der Einfluß der im Frankreich jener Zeit durchaus rezipierten deutschen Expressionisten von „Brücke“ und „Blauem Reiter“. Andere Vorbilder, wie etwa Cézanne oder Rembrandt, dessen geschlachteten Ochsen und „Susanna im Bade“ Soutine kongenial adaptierte, werden deutlicher.

Kaum Auskunft geben die Herausgeber auch über die Probleme der Datierung – beinahe alle Einträge besitzen den Suffix „circa“ vor der Jahreszahl – und der oft falschen Signaturen, die im Katalog nicht unterschieden werden. So interessant wie ein fehlendes Register der Bildthemen und Standorte wäre zudem die Auskunft darüber gewesen, zu welchen Gemälden es vorbereitende Skizzen und Zeichnungen gegeben hat – oder ob Soutine überhaupt in anderen Medien als Öl auf Leinwand oder Holz gearbeitet hat. Im Werkeverzeichnis, das ausdrücklich nicht nur „Katalog der Gemälde“ heißt, wird auf keine einzige Zeichnung verwiesen.

Schließlich fehlt auch jede Auskunft darüber, wie viele Werke Tuchman, Dunow, Perls und Loudmer nicht in den Catalogue raisoné aufgenommen haben. Ein noch ausstehender dritter Band werde all die Werke beinhalten, die die Autoren bis 1992 nicht kannten oder im Original sehen konnten, von denen es keine Abbildungen gab, deren Geschichte nicht ausreichend bekannt ist, Bilder, die als Fragmente, Ausschnitte oder unvollständig gelten müssen. Außerdem zählen auch solche dazu, die von fremder Hand überarbeitet oder vollendet wurden, und jene, die als Fälschungen verdächtigt werden oder als solche feststehen – schließlich bringt ein Soutine trotz anhaltender Flaute am Kunstmarkt noch immer bis zu 700.000 Mark.

„Chaim Soutine (1893–1943) – Werkeverzeichnis“. Herausgegeben von Maurice Tuchman, Esti Dunow, Klaus Perls und Guy Loudmer. Zwei Bände im Schuber, 780 Seiten mit 475 Farb- und etwa 60 Schwarzweiß-Abbildungen. Benedikt Taschen Verlag, Köln 1993, 99,95 DM