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Der Tschernobyl-GAU war super

■ MIT-Wissenschaftler widerlegt Legenden der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien / Beim Unfall in Tschernobyl wurde fünfmal mehr Radioaktivität freigesetzt / Gefahr ist immer akut

Berlin/Boston (AP/taz) – Die Informationen über die Atomkatastrophe von Tschernobyl sind bis heute lückenhaft. Die heutige Regierung der Ukraine will das Atomprogramm fortsetzen, ihr Interesse an weiterer Aufklärung des Unfalls vom 26. April 1986 ist gering. Auch der amerikanische Atomphysiker und Mitarbeiter am Massachusetts Institute for Technology (MIT), Alexander Sich, konnte nur „Eindrücke“ sammeln, wie er in der Zeitung Boston Sunday Globe schreibt. Immerhin aber durfte er sich 18 Monate lang in Tschernobyl aufhalten und hat seine Untersuchungen zu einer Dissertation verarbeitet – „wahrscheinlich die beste Analyse dessen, was sich während der zehn Tage nach dem Unglücksfall abgespielt hat“, findet MIT-Professor Norman Rasmussen.

Sich will vor allem zwei Legenden widerlegen, die seit 1987 von der Internationalen Atomenergie- Behörde (IAEO) verbreitet und insbesondere in der deutschen Atomwirtschaft gerne geglaubt werden: Erstens hat sich in Tschernobyl tatsächlich jener nach praktischer Vernunft unmögliche Super- GAU der Kernschmelze ereignet, und zweitens geht von dem Unglücksblock noch immer akute Gefahr aus.

Auch der offizielle, von der IAEO akzeptierte Bericht der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, gibt zu, daß die Kernschmelze bevorstand, als eine Dampf- und eine Wasserstoffexplosion das Reaktorgehäuse zerriß. Danach aber sei es gelungen, die überhitzten Brennelemente abzukühlen: Hubschrauber warfen etwa 5.000 Tonnen Sand „und anderes Material“ ab. Nach Sich haben lediglich die Piloten ihr Leben riskiert. Sinnloserweise: Sie waren angewiesen, ihre Ladungen auf eine rotglühende Stelle zu werfen, bei der es sich jedoch keinesfalls um den Reaktorkern gehandelt habe. Das nuklaere Feuer habe sich in den Keller durchgefressen und sei dann von selbst erloschen, bevor es mit dem Grundwasser eine weitere Dampfexplosion auslösen konnte, deren Folgen schier unvorstellbar wären.

Die radioaktive Verseuchung war zudem viel größer als bisher berechnet. Sich kommt auf eine Zahl zwischen 185 und 250 Millionen Curie – die IAEO hält immer noch 50 Millionen Curie für wahrscheinlich. Der Leiter der Tschernobyl-Untersuchungskommission, Moris Rosen, zeigte sich denn auch „sehr überrascht“ über die MIT- Studie. Die Gefahr ist keineswegs ausgestanden. Nach Sichs Beobachtungen ist der Betonsarkophag löchrig. Das Grundwasser steigt in gefährliche Nähe zur verseuchten Erdoberfläche und treibt die Fundamente des Sarkophags in die Höhe. Niklaus Hablützel

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