Vampire segnen zuletzt die Stadt

■ Peter Stein inszeniert erstmalig die Orestie des Aischylos in Moskau

Als Peter Stein am 3. Oktober in Moskau ankam, begann der Kampf um das Weiße Haus. Inzwischen sind die schwarzen Brandspuren übertüncht, und Rußland hat Wahl und Regierungswechsel hinter sich: Einübung der Demokratie erstmals am Ende des 20. Jahrhunderts. Moskaus größtes Theater, das Akademische Theater der russischen Armee, wurde in Form des fünfzackigen Sowjetsterns erbaut. Auf der Bühne in seinem Zentrum entscheidet das nach Aischylos erste demokratische Gericht der Geschichte, Athens Areopag, über das Schicksal eines Menschen: Orest. Er tötete seine Mutter Klytaimnestra, weil sie ihren Mann Agamemnon, Kriegsheld und Sieger über Troja, umbrachte. Weit entfernt die Todesschreie hinter der schwarzen Wand, gut sichtbar die Leichen: Paarweise und blutig präsentiert Klytaimnestra ihren Mann und seine Kriegsbeute Kassandra, paarweise und blutig führt Orest sie selbst und ihren Liebhaber auf der Rampe vor. Die Zeit der Orestie rückt näher, in Peter Steins Moskauer Inszenierung aufgeladen mit den Ängsten um die Demokratie als einziger fragiler Barriere gegen die blutigen Gespenster der Vergangenheit.

Noch nie wurde die Orestie in Rußland aufgeführt. Vor 2.500 Jahren rühmten die Athener, daß Aischylos' Tragödie die Überwindung von Blutrache und Faustrecht durch das Gesetz zur Sprache brachte. Mit dieser Sprache und der Arbeitsweise des akribischen Regisseurs mühten sich die russischen Schauspieler während der viermonatigen Probenzeit; wie weit sie gekommen sind, demonstrieren vor allem die Männer mit dem Glanz und der Grazie der gro

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ßen russischen Ballettänzer. Man begreift, wie verlockend der Rausch ist und welche Kräfte der Haß verleiht – selbst wenn er das Leben kostet. Die Wassiljewa als Klytaimnestra, Königin zwischen Dallas-Heroine und prahlerischer Schlachtersfrau; Mironows Orestes im weißen Polarfahrermäntelchen, stark nur, wenn er seinen Gefährten im Rücken hat; oder seine schwarzverhüllte Schwester Elektra, deren Zorn Tote aufwecken könnte. Die Götter tun es ihnen gleich und sind doch aus härterem Stoff: Apoll, eine marionettenhafte Grand-Guignol-Figur, läßt Schweineblut von seinem Heiligtum auf Orestes herabtropfen, vor Gericht wandelt er sich zum neureichen Talmi-Mafioso. Die silberglänzende Athene schwebt als purer Kinotraum auf die Bühne, dessen Zähmung der Rachegöttinnen so haltbar ist wie die roten Tücher, mit denen die alten zerlumpten Vetteln umhüllt werden – mit Einsetzen des Schlußapplauses kriechen sie schon wieder daraus hervor. Kaum, daß die Götter den Rücken kehren, fallen die grauen Vertreter der Demokratie übereinander her.

In diesen Momenten erstarrt das Publikum. Szenenapplaus gewährt es nur bei großen Monologen. Jeden Tag, hört man, bedrohe und beschimpfe Schirinowski seine Mit-Parlamentarier – er werde unterschätzt, hört man. Die leuchtende Reklame-Göttin der Vernunft beruft sich auf die „Zauberkraft des Wortes“, und ihre Tricks funktionieren – vorläufig. Gerade weil Peter Stein die Orestie nicht modernisiert und mit beliebigem politischen Klamauk garniert hat, wird die Essenz des uralten Stückes so deutlich, in den scharfen Konturen dieser klugen Inszenierung, ihren präzisen Bewegungen und ihrer östlichen Melodie.

Wie im Flug vergehen die sieben Stunden der Aufführung, eingebunden in die Chöre der alten Männer und jungen Frauen, deren Stimmen sich zum perfekten Orchester ordnen, wenn sie die Möglichkeiten des großen Raumes in Annäherung und Zurückweichen kunstvoll ausschöpfen. Moskaus Theaterleute sind Peter Stein dankbar, seine Schauspieler überhäufen ihn auf der Bühne mit Blumen: Weil er geblieben ist, weil er seine Arbeit todernst nimmt, weil seine Orestie ein Zeichen setzt. Ein Zeichen, das weit zurückweist zu den Anfängen, und sie waren so blutig wie das Ende, das Jetzt.

Für die Neulinge der Demokratie ist das verständlicher, wiewohl schwerer zu ertragen, als für die Wohlstandskinder des Westens. Wer sich bei der Orestie, die Stein 1980 in der Berliner Schaubühne inszenierte, noch in die Beschwörung eines zwar unterlegenen, aber doch friedlicheren Matriarchats flüchten konnte, sieht sich in der Moskauer Aufführung mit einem illusionsloseren Blick konfrontiert, auch wenn sich etliche Bühnenelemente gleichen. Noch sind die Theater voll in Moskau, doch die Inflation frißt auch die Kultur. Peter Steins Motto für den dritten Teil der Tragödie, Aischylos' Ruhm demokratischer Verfahrensweisen: „Die Vampire segnen die Stadt.“ Lore Kleinert