Die Aktivisten, weichgespült

Zu spät! Hollywood entdeckt das Thema Aids, aber vergeigt's gleich doppelt: „... und das Leben geht weiter“ von Roger Spottiswoode und „Philadelphia“ von Jonathan Demme  ■ Von Hans-Hermann Kotte

Auf der Kostümparty tanzen der aidskranke Rechtsanwalt und sein Freund, der Künstler, in weißen Navy-Ausgehuniformen. Sie tauschen tiefe Blicke aus, drehen sich eng umschlungen, müssen schließlich die sperrigen Mützen ablegen. Aber ein Kuß ist nicht drin. Erst auf dem Totenbett.

Der ältere Schwulenpolitiker ist an Aids erkrankt. Da kehrt sein junger Freund, der sich von ihm getrennt hatte, zurück. Sie weinen und umarmen sich heftig. Ein scheuer Schmatzer aufs Haar. Kein Zungenkuß von Mann zu Mann.

Es dauerte sehr lange, und es wird noch immer übertriebene Rücksicht auf das Heteropublikum genommen: Nach einem Boom unabhängiger Produktionen in den vergangenen Jahren hat das Thema Aids nun auch den Hollywoodfilm erreicht. 1993 entstanden zwei US-Großproduktionen, das schulfunkige TV-Aufklärungswerk „... und das Leben geht weiter“ sowie ein affekthascherisches Gerichtsdrama namens „Philadelphia“. Beide Filme kommen im Februar in die deutschen Kinos.

HIV im Mainstream: erst mit der tödlichen Immunschwächekrankheit scheint eine „positive“ Darstellung von Homosexuellen möglich zu werden. Mal kein Transvestit, der Frauen häutet, mal keine Lesbe mit mörderischem Eispickel. Politisch korrekt, angesiedelt in der Mittel- beziehungsweise Oberschicht, wird jetzt schwules Leben zumindest angedeutet und gegen Diskriminierung Stellung bezogen. Stars wie Richard Gere, Tom Hanks, Denzel Washington, Phil Collins oder Anjelica Huston trauern nicht nur und spenden, sie spielen Schwule und ihre FreundInnen. Auch wenn da mit Paraden edler Menschen für „Fairständnis“ geworben wird: Das erreicht jedenfalls mehr Leute, als es die rosa Schleifchen am Revers tun.

“... und das Leben geht weiter“ basiert auf dem Buch „And the Band Played On“ des schwulen US-Autors Randy Shilts, der bereits 1986 die Geschichte der Aids- Krise geschildert hatte. Auch das Fernsehprodukt für das Network HBO unter Regie von Roger Spottiswoode (eigentlich auf Action abonniert) hat enzyklopädische Ansprüche. Die Handlung beginnt 1976 mit dem Auftauchen des ersten „Falles“ bei einer Ärztin in Kopenhagen und endet etwa mit den Quilt-Aktionen in Washington Ende der 80er Jahre. Für Spannung muß in diesem weiten Bogen das Forscherrennen um die HIV- Entdeckung sorgen.

Ein jungenhafter heterosexueller Virusforscher namens Don Francis (Matthew Modine) vom Center for Disease Control (CDC) gerät in den Streit zwischen Robert Gallo (USA) und Luc Montagnier (Frankreich). Ohnmächtig, weil kaum mit staatlichen Geldern ausgestattet, muß er dem Kampf um Ehre und Pharmaprofite zuschauen. Noch mehr am Rand: die schwulen Polit-Aktivisten, die sehr besonnen und weichgezeichnet agieren. Von wegen Act-Up.

In verschiedenen Episoden, in denen Stars wie Steve Martin oder Lily Tomlin ihre kurzen „Gastauftritte“ haben, werden alle Wendepunkte und Schlüsselszenen der Aids-Krise abgehakt – sämtliche Fachtermini und Diskriminierungsklischees ebenso. Und unten am Bildrand werden die laufenden Todeszahlen eingeblendet.

Trotz seines Seifenopern-Formats ist „... und das Leben geht weiter“ ein wichtiger Film. Aufklärende Erinnerungsarbeit, so lange liegt das Staatsverbrechen noch gar nicht zurück: 25.000 Menschen mußten sterben, bis US-Präsident Ronald Reagan seine erste Rede über Aids hielt. „Silence = Death“: Die Regierung ignorierte die Krankheit, die nur Schwule zu betreffen schien (und anfangs noch „Schwulenkrebs“ hieß), bis es nicht mehr ging. Staatliche Mittel für Forschung, Behandlung und Prävention wurden kaum zur Verfügung gestellt; die Blutkonzerne wehrten sich lange gegen Tests der Konserven.

„... und das Leben geht weiter“ stellt das politische und geschäftliche Kalkül mit der „Strafe Gottes“ so gut dar, wie es in einem Kommerz-TV-Drama eben geht. Am Ende, nach der Spielhandlung, soll die „Bewegung“ dann mit einem drangebastelten pathetischen Musikclip noch mal zu ihrem Recht kommen. Bilder der „großen Toten“, verschnitten mit Aufnahmen von Candle-Light-Prozessionen. Eine billige Verbeugung.

Philadelphia. Gar nicht zufällig überfliegt die Hubschrauberkamera die Statue von Benjamin Franklin, einem der Väter der US- Verfassung (und Inkarnation protestantischer Prüderie). Philadelphia, die Stadt, in der die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet wurde, ist ein Symbol für Demokratie, Gerechtigkeit und Toleranz. Und sie trägt in den Vereinigten Staaten den passenden Beinamen „Stadt der brüderlichen Liebe“. Eine Stadt wie geschaffen für Jonathan Demmes „Philadelphia“, den ersten Aids-Spielfilm aus einem major studio.

Der schwule Anwalt Andrew Beckett (Tom Hanks) wird von der Nobel-Kanzlei, in die er gerade als Teilhaber aufgenommen wurde, wegen seiner Homosexualität und seiner Aidserkrankung gefeuert. Als Kündigungsvorwand muß eine angeblich verschlampte Akte herhalten. Beckett will seine früheren Arbeitgeber verklagen, doch er findet in der ganzen Stadt keinen willigen Rechtsbeistand. Auch Joe Miller (Denzel Washington), ein jungdynamischer schwarzer Anwalt, der eine eigene Fernsehsendung hat, lehnt zunächst die Übernahme des Falles ab. Der Macho- Mann und Kleinfamilienvater, der aus seiner Homophobie keinen Hehl macht, sucht erst mal den Hausarzt auf: Kommen die Viren auch durch die Luft?

Nach einer Zufallsbegegnung der beiden Protagonisten in einer juristischen Bibliothek erwacht aber schließlich doch Millers Sinn für Gerechtigkeit. Er überwindet sich, der Justizfilm kann beginnen. Am Ende des lehrreichen Prozesses, den Andrew Beckett mit Unterstützung seiner toleranten Eltern, seiner mutigen Geschwister und seines opferbereiten Latin- Lovers Miguel (Antonio Banderas) führt, ist er todkrank. In der Klinik erfährt er, daß er recht bekommen hat und Millionen von Dollar dazu. Er stirbt sanft in den Armen von Miguel, schläft den Schlaf des Gerächten.

„Philadelphia“ kann eine elegante Kameraführung (Tak Fujimoto), intelligente Dialoge und Gags sowie die starke Besetzung der Nebenrollen (Jason Robards, Mary Steenburgen, Joanne Woodward) für sich verbuchen. Nett auch: Tom Hanks, das Börsen- Ekel aus „Fegefeuer der Eitelkeiten“, mal heulen zu sehen wie einen Schloßhund.

Daß einem am Schluß von „Philadelphia“ aber eher der gleichnamige Streichkäse in den Sinn kommt, liegt daran, daß Demme zu sehr auf Tränen setzt. Es wird gegeigt, was das Zeug hält. Andrew nimmt minutenlang bei Opernarien und Rotlicht Abschied vom Leben. Schließlich klingt der Film mit auf Homevideo getrimmten Kindheitsbildern von Andrew aus, als sollten die Zuschauer genötigt werden, einen Bausparvertrag zu unterschreiben. Zuviel des Guten. Zuviel der Guten.

„... und das Leben geht weiter“. Regie: Roger Spottiswoode, USA 1993, 141 Minuten

„Philadelphia“. Regie: Jonathan Demme, USA 1993, 119 Minuten (Start: 24. 2.)