"Große Verarschung"

■ Anti-Dopingkampf: echter Beweis der Unschuld statt bloßer Worte / Gespräch mit dem Heidelberger Professor Werner Franke

Professor Werner Franke ist im Hauptberuf Molekularbiologe des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Seine Frau Brigitte Berendonk und er verkörpern im deutschen Sport die ethische Seite, den Kampf gegen das Doping. Spätestens seit Brigitte Berendonk 1991 ihre Recherchen in dem Buch „Doping Dokumente – von der Forschung zum Betrug“ festgehalten hat, war die Öffentlichkeit dem Informationsmonopol von Sportärzten und Trainern auf Treu und Glauben ausgeliefert. „Wir müssen kompetenter sein als die Täter“, lautet die Devise des Ehepaares, welche beide zur Gegenautorität werden ließ.

taz: Doping findet, gemessen an der Häufigkeit von Zeitungsmeldungen, vorzugsweise in der Leichtathletik statt. Sehen wir in Lillehammer weiße Spiele und Sportler in weißer Weste?

Professor Werner Franke: Mitnichten. Es gibt immer wieder Fälle, nur werden die eben – vielleicht auch weil Wintersport insgesamt sich nicht dergleichen Popularität erfreut wie die Leichtathletik – geschickt vor der Öffentlichkeit unter der Decke versteckt. Als bei den deutschen Bobfahrern im letzten Jahr eine positive Urinprobe auftauchte, fehlte der dazugehörige Name. Der Betroffene wurde veranlaßt, zurückzutreten. So einfach werden Skandale klein gehalten. Oder: Vor einigen Jahren wurde bei der Einreise in ein westliches Land ein russischer Eisschnelläufer beim Anabolika-Schmuggel im großen Stile erwischt. Eine chinesische Eisschnelläuferin hat ihr Doping unter Tränen öffentlich gestanden. Oder: 1992 bezichtigte ein holländischer Arzt holländische Läufer, mit Stoff aufs Eis zu gehen – er wurde, nicht weil er Unrecht hatte, sondern aus formalen Gründen zurückgepfiffen – er habe seine ärztliche Schweigepflicht vernachlässigt. So funktioniert das immer.

Und in der Leichtathletik funktioniert es professioneller?

Richtig, hätten wir einen Klaus Wengoborski (A.d.R.: ein pensionierter Kriminalbeamter, derzeit Dopingkontrolleur des DLV) in den Winterdisziplinen, sähe das Bild vermutlich ganz anders aus.

Sind die Kontrollen unzureichend?

Sehr. Vor allem werden sie nicht intelligent gemacht. Herr Wengoborski hat sich die Mühe gemacht, sich in Trainingsmethodik einzuarbeiten, um nicht weniger kompetent als seine kriminellen Gegner, die dopenden Trainer und Sportmediziner, zu sein. Es macht wenig Sinn, so wie es im letzten Jahr geschah, im November chinesische Läuferinnen zu testen, wenn diese gar nicht die Hallensaison wahrnehmen, also zu dieser Zeit bestimmt nicht anabolisch unterstützt sind.

Im Osten, so hat uns nun auch die Gauck-Behörde hochoffiziell versichert, wurde flächendeckend und sportartübergreifend gedopt...

...für alle Kaderathleten war es ein Privileg, die kleinen blauen Pillen (Anm. d. Red.: Oralturinabol war die gängige DDR-Droge) zu bekommen.

Ja, aber im Kugelstoßen der Frauen gingen die Weiten um zwei bis drei Meter zurück. Im Eisschnellauf läuft beispielsweise eine Gunda Niemann ohne Leistungseinbruch von Rekord zu Rekord.

Selbst wenn die Leistungen gleich bleiben, heißt das nicht, daß nichts genommen wird. Was hat man denn als Gegenbeweis? Genau wie früher auch – das bloße Wort. Das ist doch eine große öffentliche Verarschung. Angesichts der kriminellen Energie auf der anderen Seite muß man davon ausgehen, daß immer intelligenter und immer krimineller manipuliert wird.

Wie denn?

Als zum Beispiel die österreichischen Sprinter im letzten Sommer kontrolliert wurden, hatten sie sich blitzschnell den „sauberen“ Urin ihres Trainers Heimo Tiefenthaller in die Blase füllen lassen. Dieser ist von Beruf Religionslehrer, was ihn nicht hinderte, zu dem, was er machte, noch heute „voll zu stehen“. Man führe sich die Szene einmal plastisch vor Augen: in Windeseile mußte eine Krankenschwester organisiert werden, die den vier Herren am Penis herumfummelte, um ihnen einen Katheterschlauch in die Harnröhre einzuführen und den Harn des Trainers einzuträufeln. Eine ebenso schmerzhafte wie groteske Prozedur. Doch der mißtrauische Wengoborski hat sie erwischt. Weil er das Quartett kurz nach der ersten Probe ein zweites Mal urinieren ließ: Da war aus der Niere bereits wieder genügend Dopingstoff nachgeliefert worden.

Das hört sich an wie aus Frankensteins Horrorkabinett. Haben Sie noch mehr auf Lager?

Die Tricks werden immer widerlicher. Vergleichsweise harmlos ist, was man über russische Eishockeyspieler seit langem weiß. Die präparieren die Doping-Toilette. Dort verstecken sie vorbereitete Fläschchen mit unauffälligem Urin, so daß sie während der Kontrolle gar nicht in die Verlegenheit kommen, ins Reagenzglas urinieren zu müssen. Diesen verbrecherischen Machenschaften kommt nur auf die Schliche, wer überraschend und intelligent kontrolliert. Und das scheint nicht der Fall zu sein. Wie sonst könnte sich Antje Misersky, Olympiasiegerin über 15 km Biathlon, über die seltsame Laschheit der Kontrolleure, die von sich aus vorschlugen, „wir können ja an einem anderen Tag wiederkommen, wenn es Ihnen heute nicht paßt“, wundern? Kein Wunder, daß von 5.000 Proben, die „German Control“ im Vorjahr gezogen hatte, keine einzige positiv war. Die Integrität des Anti-Dopingsystems steht und fällt mit der Ernsthaftigkeit der Kontrollen. Scheinkontrollen unterstellen Naivität der Öffentlichkeit.

In Lillehammer soll 600 mal kontrolliert werden. Mindestens vier Athleten pro Disziplin müssen sich einem Test unterziehen. Erstmals bei Olympischen Spielen werden Bluttests bei alpinen und nordischen Skiläufern durchgeführt. Ein engmaschiges Kontrollnetz, denkt sich der Laie.

Falsch. Bei Bluttests läßt sich allenfalls Doping mit Fremdblut nachweisen, und das wird wegen der Gefahr einer Hepatitis- oder HIV-Infektion kaum noch angewandt. Weder Blutdoping mit Eigenblut noch Doping mit den gentechnologisch hergestellten Wachstumshormonen oder mit Erythropoietin (EPO), werden in Lillehammer nachgewiesen. Aber gerade dies dürfte im Wintersport im gesamten Ausdauerbereich besonders zum tragen kommen.

Warum?

Da muß ich etwas ausholen: Beim Blutdoping wird dem Körper nach einem Höhentraining, wenn er besonders viele rote Blutkörperchen produziert hat, die den Sauerstoff transportieren, der wiederum für den Energieverbrauch bei der Muskelarbeit notwendig ist, Blut abgenommen. Dieses wird eingefroren und kurz vor dem Wettkampf als Transfusion dem Athleten wieder zugeführt. Studien* belegen, daß sich dadurch die Ausdauerleistung eines Athleten zwischen 17 und 30 Prozent erhöhen läßt. Nach einer Untersuchung einer US-Universität ließ sich so beim 10.000-Meter-Lauf eine durchschnittliche Steigerung um 69 Sekunden erzielen, also mehr als eine ganze Stadionrunde. Blutdoping fiel bis 1986 nicht unter die Dopingbestimmungen des IOC. Es war spätestens seit 1976 weit verbreitet, besonders bei Läufern, Radsportlern und nordischen Skiläufern, besonders in Skandinavien, Italien und den USA. Kerry Lynch (USA), der Vize-Weltmeister in der nordischen Kombination 1987, hat es öffentlich gestanden.

Und was ist mit EPO?

EPO ist ein Hormon, welches das Wachstum der roten Blutkörperchen anregt und ebenfalls die Ausdauerleistung gewaltig zu steigern vermag.

EPO ist frei von Nebenwirkungen?

Ganz und gar nicht. Es gibt sogar bei Doping mit EPO ein inzwischen bekanntes Todesrisiko: Durch die Erhöhung der roten Blutkörperchen wird das Blut so zähflüssig und schlammig, daß es zu Verstopfung wichtiger Blutgefäße mit Todesfolge kommen kann. Insgesamt 19 Todesfälle bei Radsportlern werden mit EPO in Verbindung gebracht**. Interview: Cornelia Heim

* Robert Voy: „Drogs, sport, and politics“, 1991.

** Siehe auch Press-Schlag.