Verbissen und Zerknirscht

Mit den Zähnen knirschen und pressen geht auf Dauer an die Zahnsubstanz / Die gequälten Zähne fallen doppelt so schnell aus / Ein Biofeedback-Piepser soll nun beim Lockerlassen helfen  ■ Von Annette Wagner

Daß anstrengende Jobs und klemmende Beziehungskisten auf den Magen schlagen können, ist ein alter Hut. Daß Menschen psychischen und körperlichen Streß unbewußt mit den Zähnen abarbeiten, ist weniger bekannt. Viele Betroffene merken erst an unerklärlichen Kopf- und Gesichtsschmerzen – oder wenn andere sie darauf aufmerksam machen –, daß sie zum Kreis der notorischen Knirscher und Presser gehören: „In ihren Träumen möchte ich nicht vorkommen!“, entfuhr es da einem Zahnarzt, als er am Gebiß einer Jura-Studentin die Spuren ihrer stressigen Abschlußprüfung entdeckte: flachgekaute Eckzahnspitzen; Schliffflächen und Zacken in den Schneidezähnen. Eine andere Knirscherin wurde beim Einzug in eine WG geoutet: Die martialistischen Mahlgeräusche hatten ihrem neuen Zimmernachbarn eine schlaflose Nacht beschert.

An der Tübinger Zahnklinik – wo jährlich 800 bis 1.000 neue schmerzhaft verbissene Patienten behandelt werden – testet man derzeit ein akustisches Biofeedback-Gerät, das locker machen soll. Nach jahrelanger Miniaturisierungsarbeit ist der Prototyp endlich so klein, daß er im mobilen Einsatz am Arbeitsplatz erprobt werden kann. Das Prinzip des Beißmelders: Eine Klebeelektrode mißt am großen Kaumuskel die Muskelaktionsströme. In einem feuerzeugkleinen Plastikquader, der entweder hinterm Ohr des Patienten befestigt oder am Brillenbügel eingeklingt wird, sind Meßgerät, Piepser und Minibatterie versteckt. Sobald der Presser die Zähne zusammenbeißt – schnellt die Spannung über den individuell einstellbaren Grenzwert hinaus: Das Warnsignal ertönt.

Jeder Dritte überlastet seinen Kiefer durch unbewußtes Leerkauen so sehr, daß die Muskulatur unter prüfendem Druck eines Arztes schmerzen würde. Jeder zwanzigste Deutsche gehörte einer bundesweiten Mundgesundheitsstudie zufolge in entspannende Behandlung. Aber nur jeder Hundertste hat so heftige Symptome, daß er tatsächlich einen Arzt aufsucht: unüberhörbares Kiefergelenkknacken; Kiefer-Muskelkater mit Verspannungen bis hin zur Maulsperre. Noch schlimmer – weil irreparabel – sind die Schäden an der Zahnsubstanz: Extreme Knirscher schmirgeln ihr Gebiß bis auf Reststumpfe herunter. Extreme Presser setzen ihre Zähne so sehr unter Druck, daß sie in mikroskopischen Größenordnungen verbiegen – und damit erheblich kariesanfälliger werden. Und: Dauergepreßte Zähne fallen doppelt so schnell aus wie solche, die lediglich mit alltäglicher Nahrungszerkleinerung strapaziert werden.

Wie geraten Zähne auf die schiefe Bahn? In der Mundhöhle können schon minimale Oberflächenveränderungen – eine neue Krone oder eine schlecht eingepaßte Füllung etwa – derart irritieren, daß man unbewußt versucht, den Störfaktor wegzuschleifen. Häufiger lösen jedoch psychischer oder körperlicher Druck das selbstzerstörerische Mahlen und Pressen aus. Weshalb vielen Schmerzpatienten letztendlich nur vom Psychologen und Zahnarzt gemeinsam geholfen werden kann. Auch Kinder arbeiten unbewältigte Erlebnisse mitunter nachts mit den Zähnen ab. Die meisten Betroffenen sind jedoch zwischen 20 und 40 Jahre alt, stecken in vorübergehend belastenden Lebensphasen wie Berufsanfang oder Familiengründung. Andererseits sind bestimmte Berufsgruppen besonders stark vertreten: Schwerarbeiter aus Straßenbau oder Stahlindustrie, aber auch Leistungssportler und Rennfahrer. Am heftigsten scheint Lehrerinnen und Sekretärinnen ihre tägliche Ausgleichsfunktion im Schul- und Büroalltag an die Zahnsubstanz zu gehen.

Aber auch ausländische Fabrikarbeiterinnen geben den doppelten Druck – zum körperlichen anstrengenden, monotonen Job kommen bei ihnen sprachliche Verständigungsprobleme – häufig an ihre Zähne weiter. Daß über 80 Prozent der Schmerzpatienten Frauen sind, liegt einerseits daran, daß deren Kiefermuskulatur schwächer ist und Druck nicht so effektiv abpuffern kann. Entscheidender ist jedoch, daß Frauen nach wie vor geschlechtsspezifisch stärker zum Harmonisieren, zum Aggressionen-Schlucken erzogen werden.

Daß zwischen Kauvorgang und Psyche naturgemäß ein enger Zusammenhang besteht, ist an den zahllosen einschlägigen Redensarten abzulesen: Da schluckt jemand seinen Ärger über einen treulosen Freund hinunter. Ein anderer steckt zähneknirschend eine Rüge ein – und ein Dritter beißt sich durch einen harten Job. Das Kauorgan als Waffe, zum Angriff oder zur Verteidigung einzusetzen, steckt nach wie vor im Menschen – als uraltes psychomotorisches Programm, das unbewußt immer wieder durchbricht. Deshalb fällt es Knirschern und Pressern so schwer, ihren Kiefer unter Kontrolle zu bringen. Massage und krankengymnastische Übungen können lediglich die schmerzhaft verspannten Muskeln lockern. Aufbißschienen aus Plastik können die Zähne vorm nächtlichen Abschmirgeln schützen.

Wirklich abgewöhnen kann man sich selbstzerstörerisches Leerkauen jedoch nur, wenn man es sich bewußt macht und das Lockerlassen systematisch trainiert. Eine erste mechanische Erziehungshilfe, der sogenannte Interzeptor, wurde an der Tübinger Zahnklinik schon vor 25 Jahren entwickelt: eine Aufbißschiene mit zwei winzigen irritierenden Höckern, die das unbewußte Pressen unterbrechen sollen. Optische Hilfen zur Eigenkontrolle – beispielsweise ein roter Punkt am Arbeitsplatz – taugen wenig, weil man sich zu schnell an sie gewöhnt. Wiederholte akustische Signale, wie sie der Tübinger Beißmelder aussendet, erziehen am effektivsten. Das Gerät soll allerdings erst dann in Serie gehen, wenn es so weit geschrumpft ist, daß es mitsamt den Elektroden im Bügel einer Brille verschwinden kann.