Kein Zweifel an der Todesstrafe

Tausende werden jährlich in China zum Tode verurteilt. Eine Diskussion oder gar prinzipielle Kritik an der Todesstrafe gibt es nicht – auch nicht unter Intellektuellen oder DissidentInnen.  ■ Aus Peking Ruth Bridge

Die Schießplatz-Straße, heruntergekommen und voller Schlaglöcher, führt durch einen trübseligen Landstrich im Süden von Peking. Hier gibt es kaum Bäume, wenige Menschen, und der Yongding- Fluß ist fast ausgetrocknet. Doch sein Ufer und das sandige Flußbett dienen seit Jahren einem speziellen Zweck: Dies ist Pekings Hinrichtungsplatz.

Hunderte zum Tode Verurteilter sind auf Lastwagen hierhergebracht worden, ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Sie sind mit dem Gesicht zum Ufer niedergekniet, damit die Kugeln, falls sie danebengingen, von der Erde vor ihnen aufgenommen würden. Dann sind sie mit einem auf das Genick aufgesetzten Gewehrschuß umgebracht worden. Ihre toten Körper wurden entweder von den Transportern der Krematorien weggeschafft oder von Krankenwagen, in denen Ärzte saßen, die Organe zur Transplantation entnehmen wollten, solange sie noch frisch waren. Öffentliche Hinrichtungen sind in China verboten, doch häufig stehen Passanten hinter der Polizeiabsperrung und sehen zu.

China hält die Gesamtzahl der Hinrichtungen geheim, aber einige Fälle werden in der Presse vermeldet – als deutliche Warnung an all jene, die den Versuchungen eines kriminellen Lebens nicht widerstehen können. Im Jahr 1992 sind in China nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation amnesty international bis zu 5.000 Todesurteile verhängt worden – mehr als in der übrigen Welt zusammengenommen. Davon wurden mindestens 1.079 vollstreckt. In den Monaten Januar bis November 1993 sind ai zufolge 1.249 Hinrichtungen bekanntgeworden. In einem einzigen Monat, im September vergangenen Jahres, wurden im Zusammenhang mit der Antikorruptionskampagne mehr als 570 Todesurteile verhängt und mindestens 373 auch vollstreckt.

Es gibt etwa 65 Verbrechen, die mit dem Tode bestraft werden können, einschließlich Diebstahl und Unterschlagung. Im November 1992 wurde ein Mann hingerichtet, der billigen Schnaps in Flaschen der Edelmarke Maotai verkauft hatte. Ein anderer starb im April vergangenen Jahres, weil er pornographisches Material veröffentlicht hatte.

Besonders viele Hinrichtungen finden traditionell vor dem chinesischen Neujahr statt – das in diesem Jahr auf den 10. Februar fällt –, eine Praxis, die ein verbrechensfreies Fest garantieren soll. In den vergangenen Wochen sind im ganzen Land Dutzende exekutiert worden. Vor einem Pekinger Gerichtsgebäude hängt eine Liste, auf der die Verbrechen von 14 Männern aufgeführt sind, die in der letzten Januarwoche zum Tode verurteilt worden sind. Mit einem großen roten Haken wurde kenntlich gemacht, daß das Urteil bereits ausgeführt wurde.

International wächst der Druck auf China, die Anwendung der Todesstrafe einzuschränken. Seltsamerweise jedoch gibt es in diesem Land, wo so gern über die Regierungspolitik geschimpft wird, nur äußerst wenige Kritiker der Todesstrafe. „Wir sollten noch mehr Leute hinrichten“, sagt ein Intellektueller mittleren Alters, der sich über die steigende Kriminalität sorgt. „Wir sollten jeden hinrichten, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat“, kommentierte eine Journalistin in der Chinesischen Frauenzeitung, nachdem eine Busschaffnerin von einer Gruppe Männer vergewaltigt worden war.

Sogar Chinas DissidentInnen scheinen die Todesstrafe für ein nützliches Instrument zur Wahrung von Recht und Ordnung zu halten. Sie stellen die Todesstrafe nicht in Frage – weder moralisch noch die Häufigkeit, mit der sie in China angewandt wird.

Es werden auch weniger die Intellektuellen oder Dissidenten exekutiert. Die in der Demokratiebewegung aktiven StudentInnen wurden nach 1989 zu langjähren Haftstrafen verurteilt. Hingerichtet wurden Arbeiter, wie die drei Männer in Shanghai, die beschuldigt worden waren, einen leeren Zug angezündet und Staatseigentum währen der Proteste beschädigt zu haben.

Da es keine öffentliche Debatte über die Todesstrafe in China gibt, wissen ChinesInnen im allgemeinen nicht, daß die Kriminalität in Ländern, die sie abgeschafft haben, keineswegs angestiegen ist. „Ich meine, wir brauchen die Todesstrafe, wenigstens für Mörder“, sagt ein gutausgebildeter junger Mann, dem einmal schlecht wurde, nachdem er bei einer Hinrichtung zugeschaut hatte. „Andernfalls würden alle möglichen Leute rumlaufen und Menschen umbringen. Sie würden einfach denken: Warum nicht, ich muß dafür ja nicht sterben.“

Ein Artikel in den Chinesischen Rechtsnachrichten vom September 1990 legte dar, daß „China die beschränkte Anwendung der Todesstrafe befürwortet und hofft, daß es sie in Zukunft abschaffen kann. Wenn wir aber gegenwärtig nicht einige Leute zum Tode verurteilen würden, dann würde die Bevölkerung das nicht richtig finden.“

Eine wachsende Zahl von Funktionären der unteren Ränge sind hingerichtet worden, seitdem die Regierung eine Antikorruptionskampagne ab 1989 in Gang setzte. Als ein Bankier im Jahr 1991 wegen Bestechung exekutiert wurde, vermeldete die örtliche Lokalzeitung, das Urteil sei „wohlverdient und von den Volksmassen freudig begrüßt worden“. Allerdings sind auch jene, die im Prinzip mit der Todesstrafe übereinstimmen, stets bestürzt, wenn sie sehen, daß es jemand wie sie trifft. Eine Beamtin, die in der Zeitung gelesen hatte, daß einer ihrer ehemaligen Kollegen wegen Korruption den Genickschuß erhalten hatte, war erschüttert: „Ich finde“, sagte sie, „daß solche Leute nicht hingerichtet werden müssen. Das sind gebildete Leute, die können umerzogen werden.“

Im vergangenen Juni veröffentlichte die Südchinesische Wochenendzeitung einen Bericht über eine Dorffehde, bei der vier Leute umgekommen waren, darunter eine Frau, die von vielen gehaßt worden war. Die Dorfbewohner meinten, daß der Mörder sein Verbrechen in der Hitze des Augenblicks und zur Selbstverteidigung begangen hatte. Sie scharten sich um ihn und versuchten ihn zu retten. „Die Leute waren froh, daß die Despotin Wang Laiying nicht mehr lebte, und sie sympathisierten sehr mit Li Chuanxing“, schrieb die Zeitung. „Mehrere Tausend Menschen aus sieben Dörfern in der Region unterschrieben eine Petition, daß Li Chuanxing die Todesstrafe erspart bleiben möge. Aber Gesetz ist Gesetz. Die Petition war nur ein Ausdruck dessen, was die Leute fühlten.“