SO 36 ruft SOS: Das Sozialnetz reißt

■ Vereine und Initiativen befürchten Verelendung in Kreuzberg / Sozialämter verwalten nur noch das Chaos

Der Kreuzberger Verein SO 36 schlägt Alarm: In Berlins ehemaligem Mauerbezirk droht das soziale Netz zu reißen. Allen „Yuppisierungstendenzen“ zum Trotz steige die Armut im Bezirk. Die Sachbearbeiter der Sozialämter seien überlastet, klagt Thomas Behrendt vom Verein SO 36 gegenüber der taz. „Deren Job ist es eher, die Leute abzuwimmeln als zu beraten.“ Gleichzeitig müßten Beratungsstellen von freien Trägern dichtmachen, weil die Gewerbemieten zu hoch seien und Zuschüsse fehlten. Gerade der Bedarf an unabhängigen Anlaufstellen für Sozialhilfeempfänger und Obdachlose werde größer.

Behrendt beruft sich auf die Ergebnisse einer Sozialstudie der Kreuzberger Gesellschaft für Stadtplanung, S.T.E.R.N.. Nach der Erhebung Ende letzten Jahres leben 13 Prozent aller Haushalte in Kreuzberg von der Sozialhilfe. Das monatliche Pro-Kopf-Einkommen liegt im Bezirk mit 1.050 Mark um ein Drittel unter dem Westberliner Durchschnitt. Alleinerziehenden steht im Monat sogar nur die Hälfte dieses Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Besonders Kinder und Jugendliche sind von Armut betroffen: Rund ein Drittel lebt unterhalb des Existenzminimums.

Und „es wird noch schlimmer“, sagt Behrendt. Seine Begründung: Die Bundesregierung hat die Sozialhilfesätze bis Ende nächsten Jahres eingefroren. Die Leute müßten steigende Lebenshaltungskosten mit einem Regelsatz von derzeit 519 Mark abfangen. „Auf kommunaler Ebene wird das Elend nur verwaltet“, so Behrendt.

Auch die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) übt Kritik an der Bonner Sparpolitik (siehe Interview unten). Sie rechnet mit einer weiteren Verarmung des Bezirks. Nach ihrer Einschätzung würden in diesem Jahr rund 800 SozialhilfeempfängerInnen zu den jetzt schon 2.600 im Bezirk lebenden hinzukommen. Gleichzeitig müsse sie mehr als ein Drittel der 105 Personalstellen in Sozialämtern einsparen.

Gegenmaßnahmen freier Sozialeinrichtungen, die gröbste Not zu beseitigen, werden schwieriger, sagt Behrendt. Die Senatsverwaltung für Soziales spart an allen Ecken. Die Quadratmeterpreise für Gewerberäume seien seit der Maueröffnung von fünf Mark auf das drei- bis zehnfache gestiegen. Bis 1996 würden die Mietverträge bei den meisten Projekten auslaufen. „In der Regel kündigen dann die Vermieter.“ Nach Behrendts Meinung müsse mit der Sozialverwaltung eine „Armutsdiskussion“ geführt werden, bevor die „soziale Infrastruktur“ in Kreuzberg vollkommen zusammenbreche. Dabei soll vor allem die Frage beantwortet werden, „ob es bei der reinen Chaosverwaltung bleibt, oder ob Perspektiven und Strategien geschaffen werden, Schlimmeres zu verhindern.“

Junge-Reyer fordert die Vereine und Initiativen auf, gemeinsam mit der Sozialverwaltung eine „lautstarke Lobby“ zu bilden, um sich für die Interessen der Armen einzusetzen. Die Stadträtin ist sich sicher, einiges durchdrücken zu können: „Ich bin durchaus kämpferisch veranlagt.“ Olaf Bünger