"Ich will noch was vom Leben"

■ Menschen, die an Aids erkrankt sind, fühlen sich oft einsam, weil niemand zärtlich zu ihnen ist / Ein Kreuzberger Wohnprojekt bietet acht Frauen und Männern eine Art Ersatzzuhause

Von einem Zuhause konnte Heidi 18 Jahre lang nur träumen. Nach dem Tod ihrer Mutter, Heidi war gerade acht Jahre alt geworden, wechselte sie von einem Erziehungsheim ins nächste. Mit 14 sehnte sie sich nach dem Leben in einer Familie. Heidi zog zu ihrem Vater und dessen neuer Frau nach Köln. Lange hielt sie es in Köln jedoch nicht aus, weil sie sich mit ihrer Stiefmutter nicht verstand. Heidi ging zurück ins Heim. Mit 17 nahm sie das erste Mal Heroin, kurz darauf infizierte sie sich mit dem HI-Virus. Sie lebte in billigen Pensionen, die ihr das Sozialamt bezahlte, vorübergehend wegen ihrer Heroinsucht auch im Gefängnis.

Heute, mit 26 Jahren, hat Heidi endlich ein Zuhause gefunden. Sie lebt gemeinsam mit sieben Frauen und Männern in einem Wohnprojekt der „ziK“ (zu Hause im Kiez), einer gemeinnützigen Gesellschaft, die Kranke und Hilfsbedürftige mit Wohnraum versorgt. „Hier fühle ich mich wohl. Ich bin nicht alleine“, sagt Heidi. Jeden Tag von 9 bis 14 Uhr kommt ein Pfleger zu ihr, der ihr bei alltäglichen Dingen wie Waschen, Umziehen und Saubermachen hilft. Zur Zeit braucht Heidi viel Hilfe, weil sie Krampfanfälle in den Beinen hat und deshalb im Bett liegen muß. Vor allem die Gespräche mit ihrer Betreuerin Winnie helfen ihr sehr viel.

Die psychische Stabilisierung der aidskranken Menschen ist eines der Hauptziele des Wohnprojekts. Jeder Bewohner hat einen Betreuer als verbindlichen Ansprechpartner. Wegen ihrer Krankheit fällt es den Bewohnern schwer, eine Perspektive für ihre Zukunft zu erkennen. Sie ziehen sich in sich selbst zurück und fühlen sich einsam, weil Aids bis heute geächtet ist.

Fast alle der Bewohner sind Substituierte, das heißt ehemalige Drogenabhängige, die jetzt Polamidon einnehmen. Da sie aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit lange Jahre am Rande der Gesellschaft gelebt haben, fällt ihnen eine Integration schwer.

„Wir wollen die Eigenständigkeit der Bewohner wieder entwickeln und ihnen den Rahmen für ein geordnetes Leben bieten“, sagt Christoph Labuhn, Leiter des Wohnprojektes. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer mit Bad. Die Männer und Frauen können ihre Tagesabläufe so einteilen, wie sie wollen. Einen Gruppenzwang gibt es nicht. Bei Behördengängen oder alltäglichen Dingen wie Kochen und Einkaufen unterstützen die Betreuer die Bewohner – falls sie das wünschen.

Heidi lebt zum ersten Mal in ihren eigenen vier Wänden und konnte das Zimmer so einrichten, wie es ihr gefällt. Das Fenster ist von Lichterketten umrahmt, und auf dem Tisch vor ihrem Bett steht ein Bäumchen, geschmückt mit elektrischen Weihnachtskerzen. Die Lichter brennen die ganze Nacht. „Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist“, sagt sie. Heidi liebt Pflanzen, Bonsais haben es ihr besonders angetan. Einer ihrer Mitbewohner kam kürzlich in ihr Zimmer und brachte ein kleines Bäumchen als Geschenk mit. Weil sie den ganzen Tag im Bett liegt, freut sich Heidi über jeden Besuch.

„Das größte Problem der Aidskranken ist ihre Einsamkeit. Keiner der Bewohner hat einen festen Partner. Vielen fehlen körperliche Nähe und Zärtlichkeit“, sagt Labuhn. Dieses Problem ist jedoch nur schwer zu lösen, obwohl die Betreuer den Bewohnern helfen, soziale Kontakte zu finden. Dies geschieht zum Beispiel durch das Engagement in der drogenakzeptierenden Gruppe „Yes“.

Manchmal bekommt Heidi Besuch von ihrer Schwester. Leider hat die selten Zeit, weil sie in einem Altersheim Schicht arbeiten muß. So bleibt oft nur das Telefon als Kommunikationsmittel. Einen großen Wunsch kann sich Heidi nicht verwirklichen: „Ich hätte so gerne einen Hund. Von dem bekommt man jederzeit Kuscheleinheiten.“

Aus gesundheitlichen Gründen dürfen im Wohnprojekt keine Haustiere leben. Eine der wenigen Regelungen, die absolut eingehalten werden müssen. Dazu gehören auch die wöchentlichen Bewohnertreffen, auf denen Organisatorisches besprochen wird und Konflikte diskutiert werden. Außerdem gilt ein absolutes Heroinverbot. Heidi hat Verständnis für die strikte Regelung: „Wenn hier nur einer Heroin nimmt, gefährdet er das ganze Projekt. Dann meinen die Leute, das wäre hier eine Fixerbude, und das Haus wird geschlossen.“ Ein Heroinsüchtiger könnte alle anderen wieder in den Sog der Sucht reißen. Das wäre für viele Substituierte im Wohnprojekt der sichere Tod. „Ich habe keinen Bock mehr auf Drogen. Ich bin erst 26 und will noch was von meinem Leben haben“, sagt Heidi. Sie will endlich normal leben, weggehen und vielleicht ein kleines Hobby haben.

Heidi ist zuversichtlich, daß sie das Bett im Frühjahr wieder verlassen kann. Der Arzt meint, sie müsse sich nur noch ein wenig gedulden. Heidi will endlich wieder nach draußen an die Luft. Im Moment spart sie für ein Fahrrad. Ihr großer Traum ist jedoch eine eigene Harley Davidson.

„Ich muß mir Ziele für die Zukunft setzen, woran ich mich festhalten kann, wofür sich die Hoffnung lohnt“, sagt Heidi. Annabel Wahba