Populismus kontra Reform lähmt Polens Politik

■ Großdemonstration der Solidarność-Gewerkschaft in Warschau offenbart die gegenwärtige politische Konfusion / Die polnische Regierung blockiert sich selbst

Warschau (taz) – Es war eine der größten Demonstrationen, die Warschau in den letzten Jahren erlebt hatte. Die Warschauer Innenstadt war stundenlang blockiert, mehrere zehntausend Demonstranten, mobilisiert von der Gewerkschaft Solidarność, marschierten vom Pilsudski-Platz zum Ministerrat, skandierten „Weg mit den Kommunisten“, verbrannten Puppen, die Premier Pawlak darstellten, und pfiffen Politiker aus. Schließlich übergaben sie im Ministerrat eine Forderungsliste: Keine Energiepreiserhöhungen, Korrekturen im Haushaltsentwurf. Doch zur gleichen Zeit, als in Warschau Solidarność gegen höhere Heizungsrechnungen demonstrierte, versuchte sie in Schlesien eine Erhöhung der Bergarbeiterlöhne auf durchschnittlich 800 Dollar brutto zu erstreiken.

Wirtschaftspolitische Forderungen, die sich gegenseitig ausschließen, und Proteste einer rechten Gewerkschaft mit Forderungen, die selbst die ehemaligen kommunistischen Gewerkschaften noch links überholen, sind zur Zeit nichts Neues. Polens exkommunistische Sozialdemokraten verdankten ihren Wahlsieg dem weitverbreiteten Unmut über die sozialen Härten der Reform – doch inzwischen sind sie die fast einzigen Hüter dieser Reform geworden. Als solche geraten sie immer mehr unter Druck. So hat der Koalitionspartner PSL (Bauernpartei) inzwischen eine Korrektur des Haushaltsentwurfs und eine praktische Abbremsung der Privatisierung durchgesetzt. Künftig muß jede „strategische Entscheidung“ des sozialdemokratischen Privatisierungsministers Kaczmarek vom zuständigen Parlamentsausschuß genehmigt werden. Dessen Vorsitzender ist ein PSL-Abgeordneter, der bisher vor allem mit Attacken auf die Privatisierung von sich reden gemacht hat.

Viele Sozialdemokraten, die in den letzten Jahren Erfahrungen sammeln konnten, haben inzwischen eingesehen, daß Subventionen ohne grundlegende Reformen der Empfänger nur auf Verschwendung von Steuergeldern hinauslaufen. Innerhalb der Bauernpartei hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Dort wird am liebsten nach dem Gießkannenprinzip an Bauern, unrentable Genossenschaftsgiganten und bankrotte Staatsbetriebe verteilt. Mehr Inflation bedeute höhere Einkommen, woraus mehr Nachfrage und mehr Produktion folge; so trage ein höheres Haushaltsdefizit zum Wachstum bei, argumentieren PSL-Abgeordnete gerne.

So steht Polen mehr den je vor dem Dilemma: Was tun, um an sich erfolgreiche Reformen fortzuführen, obwohl es dafür weder im Parlament noch in der Gesellschaft eine Mehrheit gibt? Eine Antwort hat Staatschef Walesa darauf bereits gegeben: Ein Präsidialsystem einführen, mit dessen Hilfe Reformen auch ohne demokratische Legitimierung durchgepeitscht werden können.

Zu dieser Schlußfolgerung waren Polens Kommunisten schon gekommen, bevor sie 1989 die Macht abgaben. Davon sind sie inzwischen abgekommen, haben sie doch ihre derzeitige Regierungsposition gerade freien Wahlen zu verdanken. Ihnen und allen, die die letzten vier Jahre in Polen nicht wie viele PSL-Vertreter für „zielgerichtete Sabotage unserer Wirtschaftsmacht und unserer Lebensgrundlagen“ halten, bleibt nur eine Hoffnung: daß es ihnen gelingt, so lange durchzuhalten, bis die Reformerfolge auch in den Geldbeuteln der Bevölkerungsmehrheit spürbar werden. Klaus Bachmann