Bescheidenheit? Bescheidenheit!

■ Ein Gespräch über Zustand und Perspektive der Hamburger Solidaritätsbewegung mit der „Dritten Welt“ / Es diskutieren: Uli Anders (El Rojito, Nica-Kaffee-Import), Helmut Frenz (künftiger Flüchtlings-Beauftragter der Nordelbischen Ev. Kirche, Ex-Bischof von Chile, Ex-Generalsekretär von amnesty international Deutschland ) und Sibylle Weingart (Eine Welt Netzwerk Hamburg, Kamerun Komitee)

taz: Was habt ihr vor genau fünf Monaten, am 11. September 1993 gemacht?

Helmut Frenz: Ich war am Abend in der Kirche in Mümmelmannsberg bei einer Solidaritätsveranstaltung zum 20. Jahrestages des Putsches in Chile, speziell zugeschnitten auf die Person Salvador Allendes.

Sibylle Weingart: Ich war auf keiner Chile-Veranstaltung.

Frenz: Es war auch die einzige in Hamburg.

Uli Anders: Ich weiß nicht exakt, was ich an dem Tag gemacht habe, ich weiß, daß ich an Chile gedacht habe, aber wahrscheinlich auch nur deshalb, weil wir in unserer Gruppe einen Chilenen haben. Am Tag vorher haben wir darüber geredet.

Weingart: Die Frage ist, was es bedeutet, wenn man diesen Gedenktag nicht von selber erinnert? Ich fände es viel schlimmer, wenn die Geschichte Chiles als politisches Lehrstück grundsätzlich aus unserem Bewußtsein geblendet wird, wenn das Land verschwunden und für einen unbekannt wäre. Es gibt viele Gedenkminuten und Gedenktage für viele Länder, die man so auch selber herstellen kann.

taz: Natürlich ist so ein Datum ein Symbol, aber dahinter steht die Frage: Ist Chile noch ein Thema, und was bedeutet es heute für die Solidaritätsbewegung?

Weingart: Das eigentliche Problem ist: Wie kommt es, daß Länder in der Solibewegung auftauchen und dann wieder so schnell absinken, woher kommt diese Wellenbewegung, wohin verpufft der Enthusiasmus, und warum ergibt sich da keine langfristige Arbeit oder eine Konsequenz?

Frenz: Das ist schon auffallend. Die Chilesolidarität war ein sehr hoher Wellenberg in der Solidaritätsbewegung. Ich wüßte kaum, welche noch so intensiv war ...

taz: ... Nicaragua ...

Frenz: ... ja, Nicaragua, da wurde der Wellenberg noch mal fortgesetzt, aber auch der schwächte sich wieder ab.

Anders: Die Frage hat sehr viel mit dem Engagement in einem bestimmten Alter zu tun. Für mich ist klar, daß die Konjunkturen von Solidarität sehr unterschiedlich sind. Die Solidarität z.B. mit Vietnam hatte eindeutig einen politischen Charakter - Stichwort Antiimperialismus -, wurde allerdings von einem kleinen Teil der Bevölkerung, von den Studenten getragen. Während die Bewegung zu Nicaragua breit, vom politischen Gehalt aber relativ flach war. Die hatte mehr mit Projektarbeit zu tun, die Leute konnten sich praktisch engagieren, tatkräftige Hilfe mit den Händen leisten, aber eine deutlich antiimperialistische Stoßrichtung hatte die Bewegung nicht. Das politischste war das Anprangern der Unterstützung der USA für die Contras.

Weingart: Aber was heißt „politisch“? Ist das nicht auch das Darstellen der Wirklichkeit in den Ländern, und kommt das nicht gerade auch durch die Projektarbeit rüber? Und: Wenn man 1968 sagte: „Antiimperialismus“, hat man sich nicht als Teil des Problems verstanden. Heute ist der Diskurs zu Imperialismus, Sexismus und Rassismus anders, es geht darum, die Mechanismen dieses Problems zu begreifen und aufzuzeigen, daß und wodurch auch wir Teil des Problems sind.

Frenz: Die Solidaritätsbewegung hat auch was mit unseren politischen Träumen und Sehnsüchten zu tun. Vielleicht wurde das in Chile am deutlichsten, daß sich da unser Traum zu verwirklichen schien, den Sozialismus auf demokratischem Wege voranzubringen, und Grundsätzliches in den Strukturen innerhalb der Dritten Welt zu ändern. Und dieser Traum war natürlich auch in Bezug auf Nicaragua da, wo zum ersten Mal ein diktatorisches System durch einen Befreiungskrieg überwunden wurde.

Weingart: Die Crux in der Solibewegung ist: Wir können unsere Utopien nicht an andere delegieren. Nur wenn wir sagen, auch die Verhältnisse hier sind veränderbar, und wenn wir was dafür tun, sind wir überhaupt glaubwürdig.

Anders: Das ist der vernünftige, der bewußte Weg. Aber Helmut hat Recht: In Nicaragua hat eine Revolution stattgefunden, und Revolution ist ein Begriff, mit dem viel verbunden ist. Die Solibewegung hat sehr viel mit Träumen zu tun, die wir hier vielleicht nicht leben können in unserem Land.

taz: Neigen wir dazu, Träume, Sehnsüchte an Idole zu delegieren? Und diese Idole gibt's nicht mehr: Ho Chi Minh ist tot, Che Guevara ist tot, Allende ist tot, die Sandinisten in Nicaragua sind in der Opposition, und Mandela ist aus dem Kerker raus, und deshalb kann er wieder Fehler machen.

Frenz: Jaja, unsere Revolutionsheiligen ...

Weingart: Wir brauchen offenbar jemanden, um ihn auf das Podest zu stellen. Wir wünschen uns die Anderen als perfekte Übermenschen und bringen uns in den Dialog nicht wirklich ein. Es gibt zum Beispiel in der interkulturellen Szene diesen starken Widerspruch, sich nicht auszutauschen, sondern nur immer die anderen zu melken: Der andere ist der kulturvolle, der authentische Mensch, und dann geht wir zu Veranstaltungen und fühlen sich mal wieder richtig als Menschen, wenn wir eine afrikanische Theater- oder Musikgruppe gesehen und gehört haben.

Anders: Was noch dazu kommt ist, daß diese Revolutionen alle ziemlich weit weg waren. Man konnte gar nicht so genau hingukken, was da passiert. Das hat auch mit einer Flucht aus unserem Land zu tun, daß viele das System hier als übermächtig empfinden.

Frenz: Das Feindbild war auch hier klar, wir wußten schon genau, daß unser Land auf der Seite des Imperialismus steht. Und natürlich gerät man da in eine gewisse Schizophrenie hinein, einerseits hatte man diese Sehnsüchte der Revolutionäre, andererseits wußten wird auch genau, im Grunde genommen sind wir es, die sich verändern müßten. Da fuhr man mal für sechs Wochen in so ein Land, hat sich da ganz stark engagiert - aber genau in dem Wissen, ich habe den Rückflugschein in der Tasche. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Kommandanten der Befreiungsbewegung in El Salvador. Ich fragte ihn vor meiner Abreise, was erwartet ihr eigentlich von mir? Seine Antwort: Steh uns nicht im Wege! Ich wußte nichts zu sagen darauf.

Weingart: Vielleicht ist das ja der Punkt. Das kam auch auf unterschiedlichen Kongressen heraus, wenn Mitglieder der Frauenbewegung oder anderer Bewegungen aus der Dritten Welt zu den Vertretern der Solibewegung aus Europa sagten: „Sit down, listen and meditate upon what we say“.

Wir müssen nachdenken, wo kommen wir her, wo gehen wir hin, politisch und kulturell. Was haben wir überhaupt für den Dialog anzubieten? Wir müssen da eine gewisse Bescheidenheit lernen. Ein Beispiel dazu: Ein Schriftsteller aus Afrika war hier in Hamburg zu einer Veranstaltung, und hinterher bestürmten ihn die Leute: Kannst du nicht noch ein paar Gedichte aufsagen? Und er sagte: „Ja, ich sage euch gerne noch ein paar Gedichte, aber erst müßt ihr mir alle auch ein Gedicht aufsagen.“ Und es ging ein eisiges Schweigen durch den Raum, und die Leute waren wie erstarrt, weil die meisten gar keins wußten und niemand ein Gedicht hatte, das er hätte „schenken“ können.

taz: Stichwort Bescheidenheit: Uli, wie siehst Du Deine Arbeit, die ja sehr konkret ist – Handel mit Nica-Kaffee – in diesem Diskussionszusammen-hang?

Anders: Die verbale Solidarität ist immer relativ einfach, die praktische auf vielerlei Ebenen schwierig. Es fing 1984 an mit dem Import von Kaffee aus Nicaragua und zwar als Erkenntnis daraus, daß die ganze Solidarität einem Dilemma unterliegt, nämlich daß die Ökonomie des Landes vernachlässigt worden ist. Und Ansatz war: Wir versuchen, eine Handelsbeziehung hinzukriegen, von der Nicaragua profitieren kann auf längere Zeit.

taz: Ist es heute wichtiger oder sinnvoller, gebrauchte Nähmaschinen in ein Projekt in der Dritten Welt zu transportieren, anstatt Imperialismustheorie zu diskutieren? Ist der Handel wichtiger und sinnvoller auch für den Adressaten als die symbolisch-politische Aktion?

Frenz: Das kann man nicht trennen. Um beim Nica-Kaffee zu bleiben: Das ist ja keine nonverbale Aktion. Sondern zum Kaffee kommmt ja immer die Information dazu. Wenn wir das eine ohne das andere tun, dann entartet es entweder in einfachen Altruismus oder es wird leicht zum Blabla.

taz: Ist die verbale politische Solidarität der früheren Jahre abgelöst worden durch eine praktische?

Anders: Ich glaube eher, daß viele Leute sich zurückgezogen haben, und was übrig geblieben ist, sind die Initiativen, die kontinuierlich arbeiten.

Weingart: Es gibt einen Generationenwechsel, und es gibt auch einen Schwerpunktwechsel. Die klassischen Methoden der Öffentlichkeitsarbeit – man macht einen Info-Stand, man macht eine Kundgebung, diese knochentrockenen Info-Veranstaltungen – das hat sich teilweise auch überholt. Es läuft eben nicht nach dem Schema: Aus der Erkenntnis folgt die Tat. Man kann durch zu viele und emotionalisierte Informationen auch einen bestimmten Katastrophismus und Handlungsunfähigkeit befördern, wenn man nicht gleichzeitig thematisiert, wo kann denn die Arbeit ansetzen. Die Arbeit, die für jeden leistbar ist.

taz: Eine Frage an Uli: Alle Medien schreiben über „Transfair Kaffee“, wenige über El Rojito. Wieso?

Frenz: (lacht) Wälz' es ab auf die Medien ...

Anders: Das Stichwort gerechter Preis oder gerechterer Preis trifft wohl bei vielen Leuten auf ein offenes Ohr. Das ist unser Verdienst. Gerade heute, wo Solidarität und linke Politik generell in der Talsohle sind, wird den halbkritischen KonsumentInnen die Lösung geboten, auch bei „Plus“ einen Kaffee zu kaufen, der irgendwie, ein bißchen diffus, was mit Solidarität mit den Armen in der Dritten Welt zu tun hat. Deshalb hat diese Geschichte Erfolg. Unerträglich ist sie für mich als El-Rojito-Mitarbeiter, weil sie Ursache und Wirkung völlig vernachlässigt.

taz: Wo geht denn der Schuß in den Ofen? Die Produzenten bekommen mehr Geld ...

Anders: Der Schuß geht nicht bei den ProduzentInnen in den Ofen sondern in der BRD, wenn wir Kaffee kaufen, der von großen Konzernen gehandelt wird - plötzlich mit dem Siegel „fair“ -, obwohl sie diejenigen sind, die seit Jahren Tod und Hunger verursachen durch ihre Marktpolitik.

taz: ... und sich so einen Ablaß besorgen?

Anders: (lacht) Für Ablaß ist Helmut zuständig. Im Ernst: Die Konzerne schwimmen auf dieser Welle der „ethischen“ Produkte mit. Anstatt daß auf den anderen Sorten „Blutkaffee“ steht, steht auf einer Sorte „fair gehandelt“. Andererseits ist Kaffee ein Thema geworden. Und wenn eine Schulklasse zu uns kommt, dann fragt sie nicht, wie das Leben in Nicaragua ist, sondern sie fragt nach Kaffee. Welthandel, Weltmarktpreis, Entwicklung und so weiter. Das ist eine Chance für uns, aus dieser Bescheidenheit herauszukom-men, die vorhin Thema war.

Frenz: Wir müssen uns die Demaskierung dieser Konzerne, die sich jetzt plötzlich unser Etikett anheften, zur Aufgabe machen. Deutlich machen, was in Wirklichkeit dahinter steckt.

Anders: Nochmal zurück zu der Frage, wie ist denn eine Entwicklung möglich, in einem Dorf in Südamerika, die tatsächlich dafür sorgt, daß es den Leuten langfristig besser geht? Da kommt man dann dahin, Nähmaschinen zu schicken. Damit können sie ihre Lebensumstände konkret verbessern. Aber das ändert auch erst mal nichts an der Abhängigkeit der Leute in Patagonien oder wo es sein mag von bestimmten Strukturen. Die zu verändern, muß eine Verbindung von Handel und politischer Aktion stattfinden. Wir müßten eigentlich erstmal diskutieren, wo sehen wir einen Ansatz, diese Strukturen zu verändern, über die kleinen Projekte hinaus.

Weingart: „Entwicklung“ ist ja ein sehr schillernder und gefährlicher Begriff von uns, unter Umständen haben die Leute in Patagonien eine ganz andere Vorstellung von „Entwicklung“ als wir. Wenn ich den Begriff der Bescheidenheit eingeführt habe, dann meine ich: mich hinsetzen und zuhören, was der andere zum Thema „Entwicklung“ seines Landes zu sagen hat, das letzte Wort hat er. Das ist anscheinend eine unheimlich schwierige Übung für uns.

taz: Welche Perspektive hat die Dritte-Welt-Bewegung oder Eine-Welt-Bewegung, wie sie seit einigen Jahren heißt? Politisch, organisatorisch...?

Fortsetzung Seite 33

„Solange so etwas nicht passiert, wird sich kaum etwas ändern.

Dagegen könnte ich halten, warum reißt uns Bosnien nicht aus unserer Lähmung heraus? Ich habe keine Antwort darauf. Im Grunde genommen ist das schon so eine Katastrophe.

Weingart: An dem Begriff„Eine Welt“ kann man sich natürlich reiben. Der Dachverband der entwicklungspolitischen Gruppen hier in Hamburg hat sich „Eine Welt“ genannt, das ist ein unglücklicher Begriff, weil er vortäuscht, als gäbe es eine Welt, aber der Mechanismus der Verursachung dividiert uns in Sieger und Besiegte, auch in Europa. Die Entmenschlichung und Verrohung hat auch hier verdammt zugenommen. Da braucht man nicht nach Bosnien zu fahren, es reicht, wenn man als Afrikaner in Deutschland lebt. Der Krieg ist bereits hier.

Aber für mich ist Verzweiflung keine Lösung. Es ist wichtig einen pragmatischen Optimismus zu haben. Wir backen jetzt die kleinen Brötchen, aber wir backen sie. Wir überprüfen unsere Methoden, wir sehen nach den Grundbegriffen und unseren Inhalten und fangen da wieder an. Es ist eine Sisyphus-Arbeit, aber anders geht es nicht.

Frenz: Ich bin auch nicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen. Die Solidaritätsbewegung mit den Migranten wächst, das ist mein Eindruck. Überall entstehen Freundeskreise, die sich um Asylsuchende bemühen. Das Wort Solidarität kommt ja von solide, fest, und ich versuche, dem anderen festen Boden unter den Füßen zu geben, auf dem wir gemeinsam stehen können.

Anders: Was mich hindert, großen Optimismus zu verbreiten, ist, daß unsere Zielgruppe relativ klein ist angesichts der Probleme, die ihr genannt habt, die Probleme der Migranten, die in Osteuropa... und vielleicht auch angesichts eines fehlenden Traums. Aber wir sind in den letzten Jahren auch weiter gekommen. Wir haben gemerkt, daß viele Träume tatsächlich Träume waren, Chile zum Beispiel, der demokratische Weg zum Sozialismus, Nicaragua mit einer militärischen Revolution. Wir wissen genauer, was gespielt wird und benennen es.

taz: Es gibt also noch Hoffnung?

Anders: Bei den außerparlamentarischen Bewegungen - Umweltschutz, Anti-Atom, Frieden - der achtziger Jahre hat ein relativ großer Teil der Bevölkerung mitgemacht. Leute; die in der Lage sind, kritisch zu denken. Das haben die nicht verlernt in den letzten Jahren. Vielleicht haben viele ihr Leben konventionell eingerichtet, aber ich glaube, daß ihnen nur ein bestiommter Anstoß fehlt, wieder aktiv zu werden. Ich hoffe, daß der Funke nicht in einer Katastrophe liegt.

Weingart: Wir haben uns verlangsamt, und wir haben auch das Recht dazu. Rückzug heißt ja auch: Man setzt sich hin und überlegt, wie geht es weiter. Bevor man den großen Sprung macht, geht man erstmal zurück...

Frenz: ...und nimmt Anlauf. Du meinst, wir befinden uns in einer Anlaufphase?

Fortsetzung von Seite 32

Frenz: Im Augenblick ist nicht die Zeit, einen Traum noch zu haben von einem menschlichen, demokratischen Sozialismus...

Weingart: Aber vielleicht ist es ganz gut, daß man nicht träumt, sondern sich überlegt, wie könnte ein Modell aussehen...

Frenz: ...oder eine Sehnsucht. Das ist mein politischer Weg, den ich gehen möchte, wer wagt denn noch, diesen Weg zu gehen?

Aber konkret zur Frage nach der Perspektive: Ich bin da relativ kaltschnäuzig. Wenn uns wirklich eine Lähmung befallen hat, wird man daraus nur herausgerissen durch eine Katastrophe. Wir wachen doch erst aus unseren Atomträumen auf, wenn hier ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt. Solange so etwas nicht passiert, wird sich kaum etwas ändern. Dagegen könnte ich halten, warum reißt uns Bosnien nicht aus unserer Lähmung heraus? Ich habe keine Antwort darauf. Im Grunde genommen ist das schon so eine Katastrophe.

Weingart: Ihr habt den Begriff „Eine Welt“ angesprochen: Daran kann man sich natürlich reiben. Der Dachverband der entwicklungspolitischen Gruppen hier in Hamburg hat sich „Eine Welt Netzwerk“ genannt. Das ist ein unglücklicher Begriff, weil er vortäuscht, als gäbe es eine Welt, aber der Mechanismus der Ausbeutung dividiert uns in Sieger und Besiegte, auch in Europa. Die Entmenschlichung und Verrohung hat auch hier verdammt zugenommen. Da braucht man nicht nach Bosnien zu fahren, es reicht, wenn man als Afrikaner in Deutschland lebt. Der Krieg ist bereits hier.

Aber für mich ist Verzweiflung keine Lösung. Es ist wichtig, einen pragmatischen Optimismus zu haben. Wir versuchen die kleinen Schritte. Wir überprüfen unsere Methoden, unsere Grundbegriffe und Inhalte, und fangen da wieder an. Es ist eine Sisyphus-Arbeit, aber anders geht es nicht.

Frenz: Ich bin auch nicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen. Die Solidaritätsbewegung mit den Migranten wächst, das ist mein Eindruck. Überall entstehen Freundeskreise, die sich um Asylsuchende bemühen. Das Wort Solidarität kommt ja von solide, fest, und ich versuche, dem anderen festen Boden unter den Füßen zu geben, auf dem wir gemeinsam stehen können.

Anders: Was mich hindert, großen Optimismus zu verbreiten, ist, daß die Zahl der Leute, die für Solidarität mit der Dritten Welt zu gewinnen ist, relativ klein ist angesichts der Probleme, die ihr genannt habt, die Probleme der MigrantInnen, die in Osteuropa... und vielleicht auch angesichts einer fehlenden Utopie. Aber wir sind in den letzten Jahren auch weiter gekommen. Wir haben gemerkt, daß viele Träume tatsächlich Träume waren, Chile zum Beispiel, der demokratische Weg zum Sozialismus, Nicaragua mit einer militärischen Revolution. Wir wissen genauer, was gespielt wird und benennen es.

taz: Es gibt also noch Hoffnung?

Anders: Bei den außerparlamentarischen Bewegungen - Umweltschutz, Anti-Atom, Frieden - der achtziger Jahre hat ein relativ großer Teil der Bevölkerung mitgemacht. Leute; die in der Lage sind, kritisch zu denken. Das haben die nicht verlernt in den letzten Jahren. Vielleicht haben viele ihr Leben konventionell eingerichtet, aber ich glaube, daß ihnen nur ein bestimmter Anstoß fehlt, wieder aktiv zu werden. Ich hoffe, daß der Funke nicht in einer Katastrophe liegt.

Weingart: Wir haben uns verlangsamt, und wir haben auch das Recht dazu. Rückzug heißt ja auch: Man setzt sich hin und überlegt, wie geht es weiter. Bevor man den großen Sprung macht, geht man erstmal zurück...

Frenz: ...und nimmt Anlauf. Du meinst, wir befinden uns in einer Anlaufphase?

Moderation: Claudia Hönck

und Sven-Michael Veit