Semantische Verschiebungen

■ Aleksandr Sokurovs „Verborgene Seiten“ im Wettbewerb

In diesem Jahr läuft das Werk eines rigorosen Autorenfilmers, der lange vom Forum, von den Festivals in Rotterdam und Locarno unterstützt wurde, im Programm des Wettbewerbs. Aber zu spät. Nicht nur, weil das special screening für 22.30 Uhr angesetzt war. Die Energie, die das Schaffen dieses ungewöhnlichen Regisseurs aus Petersburg auszeichnete, scheint verflogen.

Der neue Film ist wie ein Teil der begonnenen Serie über den Tod. Im „Zweiten Kreis“ mußte ein junger Mann seinen Vater begraben und das unbekannte Zeremoniell erlernen. Der Film sah sich wie ein Dialog des „beredten“ toten Körpers mit dem stotternden Sohn.

Im nächsten Film redete der Tote wirklich. „Stein“ zeichnete in merkwürdig verzerrten, sehr dunklen Bildern das Treffen eines Nachtwächters vom Tschechow- Museum in Jalta mit dem Gast aus dem Jenseits, eben Anton Tschechow, der in sein Haus auf der Krim zurückgekehrt war. Der junge Mann brach an diesem heraufbeschworenen großen Geist zusammen – der dahinterliegende mystische Sarkasmus war nicht zu überhören.

Der neue Film greift den visuellen Stil von „Stein“ auf: unscharfe Bilder, wie durch Breitwandoptik verzerrt und auf Normalformat projiziert; der Held sieht genauso aus, nur ist er kein namenloser Sohn, kein stotternder Nachtwächter, sondern Rodion Raskolnikow von Dostojewski. „Verborgene Seiten“ ist die Verfilmung von „Motiven der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, wie es im gleich dreisprachigen Vorspann heißt, in dem die Titel eine semantische Verschiebung aufweisen: von „stillen Seiten“ (im Russischen) über „verborgene“ (im Deutschen) zu „wispering“, also flüsternden im Englischen, doch vom ganzen versprochenen 19. Jahrhundert bleiben nur die Schlüsselszenen aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“, einem alles andere als verborgenen Stück russischer Literatur, übrig: Raskolnikow – Untersuchungsrichter, Raskolnikow – Sonja, Raskolnikow – Swidrigajlow.

Dazwischen flackern unscharfe schwarze Bilder, in denen manchmal eine Farbe aufflackert, zu Mahlers ähnlich unbekannten „Kindertotenliedern“. Verlangsamte Bewegung, gebaute Modelle (die Stadt ist wie ein Haus, ein Haus ist wie ein Gefängnis), somnambule Spaziergänge, mysteriöse Logik eines Traums...

Wenn der Film stumm bleibt, die Helden in Zeitlupe ins Nichts springen, die unscharfen Bilder eine Stimmung des Ungewissen produzieren, ist der Zuschauer mit einem Geheimnis konfrontiert, und es kann ihn fesseln — oder eben auch langweilen.

Wenn aber zwei Laien die berühmten Sätze über Individualität und Schuld, Sühne und Errettung nachsprechen: ist das Parodie oder der ewige Drang eines russischen Künstlers, den Weg zur Rettung der Welt zu verkünden? Da nämlich landet der Film bei der Ideologie, wenn auch einer mysteriösen oder persiflierten, und Sukurov, der in Oberhausen für einen Film über Jelzin ausgezeichnet wurde, in dem der Politiker, also ein Berufsredner, die ganze Zeit über schweigt, auch. Oksana Bulgakowa

Aleksandr Sokurov: „Tichie Stranicy“. Deutschland/Rußland 1993, 77 Minuten.

Kamera: Alksandr Burov. Schnitt: Leda Semjonova. Ton: Vladimir Persov.

Mit Alksandr Tscherednik, Elisaveta Koroleva, Sergej Barkovskij, G. Nikulina u.a.