: Moskauer Schwenk mit dubiosen Motiven
Rußland protestiert nicht mehr gegen die Nato-Entschlossenheit zu Luftangriffen in Bosnien / Schlechte Koordination, Ablenkungsmanöver oder westliche Doppelzüngigkeit? ■ Aus Genf Andreas Zumach
Die Regierung Rußlands beabsichtigt nicht mehr, mit Hilfe des UNO-Sicherheitsrates Generalsekretär Butros Ghali daran zu hindern, bei der Nato Luftangriffe auf Stellungen schwerer Waffen in und um Sarajevo anzufodern. Moskaus New Yorker UNO-Botschafter Yuri Vorontsov erklärte in der Nacht zum Freitag gegenüber Journalisten, Butros Ghali habe „die letzte Entscheidung über Luftangriffe“ und habe auch „absolut recht“ mit seiner Meinung, daß es hierzu keiner Entscheidung des Sicherheitsrats mehr bedürfe. Zuvor hatte Vizeaußenminister Anatol Adamyschin noch das Gegenteil behauptet. – Damit schloß sich Rußland der von Ghali und der Nato vertretenen Haltung an, wonach der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 836 vom 4. Juni 1993 dem Generalsekretär nicht nur ein Mandat zur Anforderung „luftunterstützender Maßnahmen“ nach eventuellen Angriffen auf Unprofor-Soldaten erteilt habe, sondern auch für „Luftangriffe“ auf schwere Waffen und andere Ziele. Der Schwenk löste nach den zunehmend harsch klingenden Äußerungen aus Moskau in den ersten Stunden seit der Nato-Entscheidung vom Mittwoch abend Überraschung aus.
Auf die Frage nach einer Begründung für die Meinungsänderung reagiert Vorontsov mit der Gegenfrage: „Wer hat gesagt, daß wir irgend etwas stoppen wollen?“ In Genf nannten gut informierte russische Quellen mehrere mögliche Gründe für die neue russische Sanftmut. Zum einen gebe es derzeit „in der Moskauer Außenpolitik keine klare Koordination und einheitliche Linie“, heißt es; Außenminister Kosyrev befände sich derzeit in Kasachstan und Jelzin sei krank. Zum anderen habe Moskau mit den zunächst harschen Reaktionen auf den Brüsseler Nato-Beschluß sowie den Andeutungen, seine Ausführung durch den Sicherheitsrat verhindern zu wollen, lediglich „seinen Protest zu Protokoll“ geben wollen, um sowohl die Serben wie auch die nationalistische Opposition im eigenen Lande zu beruhigen. Tatsächlich sei der Konflikt in Bosnien für die russische Außenpolitik „von nachrangiger Bedeutung, verglichen mit anderen Problemen vor allem im Gebiet der Ex-Sowjetunion“, sagte ein Diplomat. Doch könnten Demagogen wie Schirinowski mit der Behauptung, Moskau verrate die slawische Bruderschaft mit den Serben, „zum Beispiel in Sibirien erhebliche Emotionen schüren, die zum gewalttätigen Ausbruch dort schwelender Konflikte führen könnten“.
Nicht ausgeschlossen wurde weiter, daß einige westliche Regierungen Moskau nach der Nato- Entscheidung hinter den Kulissen signalisiert haben könnten, es werde sowieso unter keinen Umständen zu Luftangriffen auf serbische Stellungen kommen. Daher dürfe jetzt nicht durch eine den Nato-Beschluß konterkarierende Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates die Drohung mit Luftangriffen und damit der Druck auf die Serben wieder zurückgenommen werden.
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