■ Nebensachen aus Warschau
: Die Fahrkarte zum halben Preis – ohne Quittung

Warschau (taz) – „Schreiben wir?“ fragte die Dame in der Schaffneruniform hoffnungsvoll. Ich saß in einem wackeligen Eilzug irgendwo zwischen Lodz und Tschenstochau, war allein im Abteil, und die Rekruten im Nachbarabteil hinderte schon ihr Alkoholpegel daran, von der Transaktion etwas mitzubekommen, die die Dame mit mir vorhatte. Wer in Polen nämlich billig fahren will, der kauft gar nicht erst eine Fahrkarte. Für einen geringen Nachlöseaufschlag erhält er vor Abfahrt seines Zuges vom Schaffner ein Zettelchen, das ihm bestätigt, daß er nicht schwarzfährt. Irgendwann später kommt dann der Schaffner ins Abteil und kassiert. Muß er eine Fahrkarte ausfüllen, ist der volle Preis fällig, andernfalls wird halbe-halbe geteilt: Man zahlt die Hälfte, und das Geld verschwindet ohne Quittung in den Taschen des Schaffners – vorausgesetzt, er ist sicher, daß unterwegs kein Revisor einsteigt. Im Zweifelsfall wird dann eben mit dem geteilt. Das erklärt die Enttäuschung meiner Schaffnerin, als ich ihr mitteilte, daß ich leider eine Fahrkarte brauchte.

Man kann dieses Eisenbahnsyndrom auch auf die Spitze treiben, wie das unlängst eine Reporterin der Gazeta Wyborcza tat, die über tausend Kilometer in Polen per Bahn für umgerechnet knapp zwanzig Mark zurücklegte. Michal Janiszewski, Chef der polnischen Eisenbahnen, mußte Journalisten gegenüber anschließend mit einem traurigen Achselzucken zugeben, daß so etwas leider möglich, ja sogar üblich sei. Einziger Trost: Gäbe es die Schwarzfahrmöglichkeit nicht, würden die meisten gar nicht erst fahren, weil sie sich die teuren Fahrscheine nicht leisten könnten. Und Janiszewski hätte wahrscheinlich viel öfter mit Streiks um Lohnerhöhungen zu tun. Besserverdienende dagegen brauchen die Fahrscheine für ihre Steuerklärung oder für die Abrechnung mit dem Betrieb.

Diese Erkenntnis muß es auch gewesen sein, die Polens Innenminister dazu brachte, eine Verordnung über die Einführung von Strafpunkten zu erlassen, ähnlich dem Flensburger System, aber mit einem Nachteil: daß es nämlich nicht funktioniert. Nehmen wir an, Andrzej X. beschließt, seinem auch bei polnischen Autofahrern weitverbreiteten Männlichkeitswahn dadurch Ausdruck zu verleihen, daß er auf einer Landstraße mit Überholverbot einen überholenden Wagen auf dem gegenüberliegenden Randstreifen noch einmal überholt, und dies auch noch unter den Augen einer Radarkontrolle und unmittelbar vor einem Zebrastreifen. Zusammen mit der Tatsache, daß er eine Woche zuvor mutwillig einen Polizeiwagen gerammt hat, würde das jederzeit ausreichen, ihm die fälligen einundzwanzig Punkte zu verpassen und ihn zu einer erneuten Führerscheinprüfung zu zwingen. Nur daß die Streife, die Andrzej nach seinem Auto-Stunt anhält, von dessen Punkteregister gar nichts weiß, weil es in einer anderen Woiwodschaft entstand. Denn in Polen gibt's Flensburg neunundvierzigmal – eine Datei in jeder Woiwodschaft.

Andrzejs frühere Verfehlungen finden die Beamten so erst einige Zeit später im Revier heraus. Also schicken sie Andrzej X. eine Aufforderung ins Haus, er habe bis zum Soundsovielten seine Führerscheinprüfung nachzumachen. Wenn Andrzej höflich ist und amtliche Schreiben gerne beantwortet, kann er zurückschreiben, er sei nach unbekannt verzogen oder ausgewandert. Wenn er unhöflich ist, kann er etwas Häßlicheres oder gar nichts schreiben. Denn welcher ohnehin überlastete Staatsanwalt ordnet schon eine Hausdurchsuchung bei Andrzej an, nur um einen Führerschein einzuziehen.

Trotzdem gibt es natürlich Autofahrer, die es als Ehrensache ansehen, punktefrei durchs Jahr zu kommen. Sie können jederzeit auf die bereitwillige Unterstützung der einheimischen Ordnungskräfte rechnen. Zu früheren Zeiten ließ sich mancher Strafzettel nämlich einfach „teilen“ – ganz nach dem Vorbild der Fahrscheine bei der Eisenbahn: Zahl die Hälfte, aber ohne Quittung. Doch dann hatte Polens Innenminister ein Einsehen mit seinen unterbezahlten Beamten und führte das Punktesystem ein. Seither lautet die Zauberformel: „Zahl den vollen Preis, ohne Quittung, aber dafür ohne Eintrag ins Punkteregister“. Klaus Bachmann