Ohrfeigen für Sinnsucher

■ Der neue Tanzabend von Pina Bausch in Wuppertal

„Ein Trauerspiel – a mourning play“ heißt – wie bei Pina Bausch üblich, zunächst nur vorläufig und kryptisch – die neue Produktion, die am vergangenen Wochenende im Wuppertaler Schauspielhaus Premiere hatte. Noch nie war in einer Produktion des Wuppertaler Tanztheaters das Tanzen selbst so deutlich Thema wie diesmal. Pina Bausch und ihr 18köpfiges Ensemble erzählen in ihrer neuen Szenencollage vom Ausprobieren, vom Suchen und Versuchen, dem Finden und dem Scheitern, der Lust an der Selbstdarstellung, dem Zweifel, der Verschiedenartigkeit und dem Ausgeliefertsein ans Publikum. Von einem Mann auf die Bühne getragen, erschließt sich eine der Tänzerinnen den Bühnenraum allein durch das Fühlen. „Stange“, erklärt sie sich an der einen, „Lautsprecher“ an der anderen Bühnenseite. Als ihr Partner sie an die erste Sitzreihe heranträgt, gerät die bekannte Welt aus den Fugen. „Weiß ich nicht“, stammelt die Frau ängstlich, als sie einen Zuschauer berühren muß. Während Barbara Hampel neugierig versucht, brennenden Alkohol von einer Tischplatte zu naschen, löscht eine Kollegin die hochprozentigen Feuer, indem sie nach tiefen Schlücken aus der Flasche Wasserbögen darauf spuckt. Wien und seine Brunnen lassen grüßen. Mehrere Anläufe braucht Julie Shanahen, um dem sie von jenseits des Donaugrabens am Bühnenrand beobachtenden Dominique Mery vortanzen zu können. „Oh god, Julie, Shit!“, unterbricht sie ihr Solo immer wieder selbst. „That's ridiculous.“ „Von vorn“, kommentiert Mercy lakonisch die vergeblichen Versuche.

Andere reagieren offensiver. „Ich bin beleidigt und gehe nach Hause“, verkündet Beatrice Libonati, um die Bühne durch den Zuschauerraum zu verlassen. Wenig später wird Julie Shanahan im leuchtend gelben Kleid stolz jene rhythmische Schrittfolge vorführen, die sie sich als Aerobic-Übung überlegt hat. Wieder bricht sie ab, wieder bleibt der Zweifel. „Ich kann auch sehr gut mit einer Wasserwaage umgehen“, so bietet Bernd Marszan dem Publikum seine Dienste als Handwerker an, nachdem er die klassischen Ballettpositionen vorgetanzt hat. „Rufen Sie mich doch einfach an. Ihre Kaffeemaschine entkalke ich Ihnen dann umsonst.“ Wer das Publikum nicht auf diese Weise für sich einnehmen mag, bemüht sich direkter: Helena Pikon wirft, nachdem sie sich die überdimensionalen Ballonbrüste zerstochen hat, Zuckerstückchen in die ersten Zuschauerreihen, während eine Bilderbuchlehrerin mit Haarknoten, weißer Bluse und schwarzem Rock Daphnis Kokkinos klassischen Ballettunterricht erteilt. Er müsse alle Muskeln anspannen, herrscht sie den Tänzer an. Ein zwischen die Sitzmuskeln geklemmtes Stück Paper wird zum pädagogischen Folterinstrument. Ohne Ende sprudeln vor der Pause die Tränen, die Dominique Mercy und Hans Beenhakker mit der Hand an die sie stützenden Freunde weitergeben. Kopfüber stürzt sich eine Tänzerin in einen Plastikeimer. Und dann wieder die reine Freude am Spiel und an der Bewegung: Mit kindlichem Jauchzen steigt Cristiana Morganti auf die Stühle, die Dominique Mercy für sie aufstellt, kippt sie – einen Fuß auf der Sitzfläche, den anderen auf der Lehne – um und beginnt von vorn. Ausgelassen albern erklären sich die Ensemblemitglieder später Worte wie „Brustbein“, „Apfeltasche“, „stocksauer“ und mit Leuchter und Hund unterm Arm „Hot Dog“. „Was glauben Sie, was das bedeutet“, fragt Aida Vaineri, als sie sich beim Tanzen eine Banane schält. „Nichts! Ich habe nur Lust, eine Banane zu essen.“ Laut klatscht die Ohrfeige ins Gesicht der ewigen Sinnsucher...

Kurz vor Ende des insgesamt fast dreistündigen Tanzabends folgt schließlich der ironische Höhepunkt der oft schmerzhaften Selbstbespiegelung: Nachdem sie eine zeitlang kichernd und lachend über die Bühne gefegt ist, parodiert eine Tänzerin jenen expressiven Ausdruckstanz, der den inzwischen weltweiten Ruhm des Wuppertaler Ensembles begründete, persifliert ihn im Sitzen gar bis an die Grenze der Lächerlichkeit. Als Grab hatte Pina Bausch die Welt bei der Wiederaufnahme von „Viktor“ noch vor zwei Jahren auf die Bühne gebracht – jetzt ist sie wieder ein bunter Spiel-Platz. Stefan Koldehoff

Weitere Aufführungen zunächst nur am 15., 17. und 19. Februar. Karten: Telefon 0202-563 44 44