■ Kleine Anleitung für eine Reformregierung
: Rot-Grün liegt in der Luft

Die Rahmenbedingungen bleiben ungünstig, von Reformklima ist nicht viel zu spüren, und doch liegt Rot-Grün in der Luft. Diese einzig denkbare Reformregierung ist zur realen Möglichkeit geworden: Sie kann, gegen Widerstände, vorangetrieben werden. Sie sollte es. Wie das in der Krise der Großparteien möglich ist? Eine neue Regierung entsteht nicht durch die Stärke der Opposition, sondern durch die Schwäche der alten Regierung. Die eine Großpartei hat abgewirtschaftet, und die SPD ist nicht stark genug, für eine Reformregierung zu mobilisieren. Jede Koalitionsaussage kostet sie Stimmen. Man muß dafür sorgen, daß keine Koalitionsaussage sie auch Stimmen kostet. „Wer Rot-Grün will, muß Grün wählen“, dieser Maxime haben die Sozialdemokraten – sie wissen es – argumentativ nichts entgegenzusetzen. Wer SPD will, muß auch mit der Möglichkeit einer sozialliberalen oder großen Koalition rechnen.

Die Grünen sind der Anwalt für Reformpolitik. Nur sie können und sie müssen für Rot-Grün mobilisieren – sonst verlieren sie auch diese Wahl. Auf die SPD brauchen sie nicht zu warten, die war auch in besseren Zeiten, zum Beispiel 1969, nicht in der Lage, vor der Wahl für ein Reformbündnis zu mobilisieren. Der reformbereite Brandt konnte sich erst danach gegen Wehner und Schmidt durchsetzen, die beide die große Koalition fortsetzen wollten. Die Mobilisierung für eine Reformregierung kam nachträglich und von oben.

Regierungen, zumal Reformregierungen, entkoppeln sich immer mehr von dem, was vor der Wahl gesagt wird. Einem flächendeckenden, mittel- bis langfristigen Reformprogramm fehlt heute jede Glaubwürdigkeit. Die SPD hat das an ihrem „Orientierungsrahmen“ schon in den siebziger Jahren durchgespielt: Als lineare Hochrechnung von Reformpolitik war er von der Wirklichkeit sofort überholt, als man dann alle Bedingungen, Widersprüche und Ungewißheiten mit hineinschrieb, orientierte er nicht mehr. Die Verbindung von Wahl und Regierung läßt sich heute nur noch über Projekte herstellen. Eine Reformpartei definiert zur Wahl eine sehr begrenzte Zahl konkreter Projekte, die die Richtung der Reform in sich tragen und sie einleiten können.

Man bemüht sich um Gesamtverantwortung, aber drei Projekte kann man den WählerInnen versprechen, in Koalitionsverhandlungen durchsetzen (sonst ist man nicht dabei) und im Regierungsprozeß zum eigenen Mittelpunkt machen. Darüber muß eine Reformpartei streiten, bevor sie in den Wahlkampf geht, darauf ist die Partei dann festgelegt, das ist ihr Kompaß im Auf und Ab des Regierungsgeschäftes. Um drei Beispiele zu nennen, die die begrenzte, aber nachprüfbare Wirksamkeit solcher Reformprojekte andeuten:

Neuer Energiekonsens, der den Ausstieg aus der Atomenergie und die Verhinderung von Plutoniumwirtschaft ebenso zum Gegenstand hat wie Anreize für die Energiewirtschaft, mit der man zur Übereinkunft kommen muß, bei rot- grünen Rahmenvorgaben ressourcenschonender, risikoarmer Energiepolitik.

Ökologische Steuerreform als keineswegs einziger, aber als einer der wirksamsten Steuerungsmechanismen, um Ökologie in die Marktwirtschaft, vor allem in die Betriebswirtschaft einzuführen.

Offensive Ausländerintegration, die die Abschottung und Fremdenfeindlichkeit dort durchbricht, wo es trotz der Grundgesetzänderung möglich ist: etwa bei einem Einwanderungsgesetz und einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht.

Dies sind nur Kandidaten für Projekte, die aus einer Wahl mit in die Regierung zu nehmen wären. Mehr kann man in demokratischer Anbindung verantwortlich nicht tun. Rot-grüne Regierungen in den Ländern mußten immer von oben mobilisieren, die Frage war, ob sie das konnten. Eine unterstützende Mobilisierung „von unten“, durch die Partei oder gar durch die Bewegungen, hat es nirgendwo gegeben. Die Knappheitskünstler der Grünen müssen auch hier die staatlichen Ressourcen nutzen. Für die Auswahl von Regierungspersonal heißt das: sachpolitische Kompetenz plus herausragende Kommunikationsfähigkeit, kein grün-alternativer Experten- oder Beamtentypus in Ministerämtern!

Friedhelm Farthmann hat die Theorie entwickelt, die Sozialdemokraten müßten die Grünen unter Druck setzen. Sie dürften ihnen prinzipiell keine rot-grüne Koalition anbieten. So seien die grünen WählerInnen gezwungen, SPD zu wählen, um eine CDU-Regierung zu verhindern. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer verhindern will, daß die SPD sich bürgerlich liiert, muß ihr durch Grün die Richtung zeigen.

Ein alter Irrtum mancher Grüner ist, daß die Sozialdemokraten grün werden müssen, damit es zu Rot-Grün kommen kann. Die langjährigen Anpassungen des sozialdemokratischen Mitte-Links- Flügels an die Grünen (zuletzt in der Organisationsreform des Wiesbadener Parteitags), diese Verwechslungen und Verwischungen von Rot und Grün haben die Steuerungsprobleme des Tankers SPD gewaltig verschärft. Die Schwierigkeiten von Rot-Grün sind dort besonders groß, wo die SPD zu grün geworden ist.

Die SPD kann – jedenfalls auf Wählerebene – erfolgreich nur ein Faktor der Mitte sein, mit einem Schwerpunkt in der linken Mitte, werbend um die rechte Mitte und den sozialdemokratischen Rechtspopulismus, mit Ausläufern zur Linken. Es ist wahrscheinlich, daß die SPD aufgrund ihrer „Christdemokratisierung“ (Geißler) diesmal bei der rechten Mitte dazugewinnt. Nur wenn sie gleichzeitig im Felde des links-ökologischen Postmaterialismus verliert, das heißt die Grünen zulegen, kann der Gegendruck erzeugt werden, der die rot-grüne Option tatsächlich offenhält. Es gibt wirklich diese Mechanik des politischen Wettbewerbs. Gewinnt die SPD rechts, ohne links zu verlieren, wird sie auch koalitionspolitisch nach rechts gehen. Scharping ist sicherlich das Beste, was den Grünen vor der Wahl passieren konnte. Es hängt von den Grünen selbst ab, ob er das Schlechteste sein wird, was den Grünen nach der Wahl geschieht.

Es ist erst ein bißchen kompliziert, am Schluß aber ganz einfach: Die Grünen müssen Rot-Grün wollen. Nur so gewinnen sie „ihre“ Wähler und brechen ein in den sozialdemokratischen Postmaterialismus (immerhin ein Drittel der SPD-Wähler). Nur so entsteht der Druck, der Scharping entgegen seinen Neigungen zu Rot-Grün führt.

Jede Koalition, selbst eine große Koalition, die die SPD nach der Wahl eingeht, hätte keine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich. Die Diskrepanz zwischen politisch-arithmetischer und gesellschaftlicher Mehrheit wäre im Falle von Rot-Grün aber besonders groß, die Gegenmobilisierung von Kapital und Konservativen gewaltig. Ein bißchen könnte man sich darauf vorbereiten. Der Lerneffekt der vielen Wahlen in Kommune, Land und Europa (wozu wählen wir eigentlich?) könnte heißen: Rot-Grün ist möglich, also machen wir es. Joachim Raschke

Professor für Politikwissenchaft an der Universität Hamburg