Das Gefühl, verkabelt zu sein

■ "Kunst aus der Sozialpsychiatrie" zeigt das Psychosoziale Zentrum im Kreuzberger Rathaus: Skizzierte Passionsgeschichten, plakafarbene Träume und sexuelle Phantasien

Bläulich schimmernde Metallklammern reißen Löcher in das grüne Gesicht. Sie spalten die lederne Haut über der Oberlippe und legen die oberste Zahnreihe frei. Halbabgetrennte Lippen baumeln herunter. Das graue Haar gleicht gefalteten Lavahügeln, aus denen die Glut fast erloschen ist. Wie ein zum Sterben müder Indianer schaut die zerschnittene Figur zum Mond, mit dem ihr Blutkreislauf mysteriös vernetzt zu sein scheint. Kein psychedelisches Plattencover einer delirierenden Death-Metal-Band, sondern Bestandsaufnahme eines psychischen Extremzustandes. „Psycho“ nennt Kerstin Weber ihr Bild und meint „das Gefühl, in sich eingeschlossen zu sein, verkabelt und zugeklammert“.

Zusammen mit sieben anderen TeilnehmerInnen der Gestaltungstherapie-Gruppe des Psychosozialen Zentrums Kreuzberg (PZK) stellte sie einen Monat lang Illustrationen ihrer Lebenswelt im Kreuzberger Rathaus aus. Bestechend simpel skizzierte Passionsgeschichten (wie „Aufnahme. Der Nächste bitte. II. Bonhoeffer-Therapie“ von Egon Polzin) und in eindringliche Bildsequenzen übersetzte Krankheitsphasen erzählen von zersplitterten Identitäten, auf denen die Mahlsteine psychiatrischer Dienstleistungen ihre Inschriften hinterlassen haben. Dazwischen auch sexuelle Phantasien („Augenweide“, Gerhard Schlusseneck) und plakafarbene Träume von symmetrisch sortierten Paradiesen, Federvisionen von Struktur, Ordnung und Übersicht („Fantasie“, von H.Y.).

Für den Betrachter ist die Konfrontation mit den 90 Werken der „Kunst aus der Sozialpsychiatrie“ unheimlich und faszinierend zugleich – man glaubt in dieser Bilder-Sprache Geister zu entdecken, die man selbst besser gar nicht erst rufen möchte. Die Schaulust will undomestizierbare Dämonen sehen, die alle zivilisatorische Organisation nicht verbannen konnte, aber immer fürchten wird. Doch statt dessen muß sie sich mit Bildern zufriedengeben, die weniger Spuk denn die künstlerische Suche nach Individualität, nach authentischem Ausdruck dokumentieren. „Die sozial verbotene Rede“ nannte Freud die Sprache der Psychotiker. „Das Etikett Krankheit hat auch eine beruhigende Wirkung“, weiß Leiter Dr. Andreas Brecht-Bergen, „das Bedrohliche wird eingeordnet, und der Fall wird der zuständigen Instanz der Psychiatrie zugewiesen.“ Sie entferne „psychisch Kranke aus den Augen der Öffentlichkeit“. An Tabu-Mustern kann man auch im PZK nichts ändern.

Dennoch sollen die Schlagbäume rund um das Getto „psychiatrische Einrichtung“ gelüftet werden. Seit der Gründung des ambulanten Zentrums 1975 durch die Initiative des Sozialpsychiatrischen Dienstes und der psychiatrischen Abteilung des Urban-Krankenhauses, ist das PZK in dieser Form erstmalig an die Öffentlichkeit getreten. Die mutigen Arbeiten der Gruppe, die die Psychologin Bernarda Wieghaus vor zehn Jahren auf die Beine stellte, zeigen „etwas aus dem menschlichen Seelenleben, das uns sonst verborgen bleibt“, so Leiter Dr. Andreas Brecht-Bergen. „Das Seelische arbeitet primär mit Bildern“, erklärt der Psychiater, „wir alle haben eine Ahnung davon, daß auch in uns der Keim zu psychischem Kranksein schlummert, daß auch wir ein tiefes seelisches Leid und ,Verrücktsein‘ in dieser Welt erfahren können.“

Rund 300 unter Verfolgungswahn Leidende, manisch Depressive, Schizophrene und von Zwangshandlungen Beherrschte finden im vom Bezirksamt Kreuzberg und dem Gesundheitssenat finanzierten PZK Refugium und Kontaktstelle. Wöchentlich (oder seltener) treffen sie sich in der Baerwaldstraße 67 – manche schaffen den Weg nur einmal im Jahr –, um wenigstens für die Dauer eines Tischtennis-Matches oder eines Frühstücks aus ihrer Isolation zu finden. Hier sollen sie mit Hilfe des siebenköpfigen Personals lernen, ihren Alltag zu organisieren, und „sei es nur, daß sie sich aufraffen müssen, regelmäßig an Englisch-, Fußball- oder Kochgruppen teilzunehmen. Das fällt den meisten sehr schwer“, schildert Sozialarbeiterin Erika Dinse. Immer kann das ambulante Psychosoziale Zentrum auch nicht weiterhelfen. Gerät einer in eine „akute Phase“, wird gänzlich unerreichbar, deutet alles auf die Stille vor dem Sturm oder dem Suizid hin, überweisen Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienstes den Patienten an eine geschlossene Abteilung.

Kerstin Weber kann ein Bild davon malen. Manchmal wollen die Stimmen im Kopf einfach nicht verstummen. Manchmal raunen sie Tag und Nacht im Kommandoton, gebärden sich als apokalyptische Boten oder drohen willkürlich Strafen an. Was sie befehlen, womit sie drohen, möchte die ehemalige Philosophie- und Sozialpädagogik-Studentin nicht sagen. „Es ist so bedrohlich, es ist, als ob man immer und immer wieder die gleiche Melodie hören muß“, erklärt die 31jährige. Überpinseln kann sie das Stimmengewirr nicht, dennoch zeichnet sie die Nächte durch, „bis zur Bindehautentzündung“. Sie versucht sich in Geduldspielen zu disziplinieren, würfelt stundenlang und fixiert jede Augenzahl mit einem bestimmten Symbol auf der Leinwand. „Ich will wissen, wie lange ich so etwas aushalte“, sagt sie und beginnt ihr „Gesetz des Zufalls mit zwei Würfeln“, das einem farbigen Schaltplan ähnelt, transportsicher zu verpacken. Wenn alles klappt, sind ihre Arbeiten und die der anderen Künstler demnächst in der Zentrale der Evangelischen Kirche und im Berliner Dom wiederzusehen. Bislang fehlen für die Fortsetzung noch Stellwände und für den Ausstellungskatalog noch Geld. Birgit Glombitza

Spendenkonto: Förderverein Kurbel e.V.; Bank für Sozialwirtschaft; BLZ 100 20 500; Konto-Nummer 312 23 000.