Die dicke Krise ist da, was aber tun?

■ Deutschland stagniert ökonomisch, politisch und intellektuell

Nur wer geflissentlich den Kopf in den Sand steckt, vermag die Alarmsignale noch zu übersehen: Deutschland stagniert. Doch das, was sich allgemein unter der statistisch festgestellten Rezession subsumieren läßt, trägt der Krise längst nicht mehr Rechnung. Die gesamtdeutsche Gesellschaft stagniere nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und intellektuell und, so zumindest glaubt der Politologe und Volkswirtschaftler Burkhard Wehner, diese Krise lasse sich in ihrer Dauer und ihren politischen wie gesellschaftlichen Auswirkungen nicht nach bisher geltenden Erfahrungen beurteilen. Recht hat er, denn die alten Erfahrungsmuster sind allzu eng mit Werten verknüpft, die heute zur Revision anstehen: ungebrochenes Wachstum, privater Wohlstand, ein leistungsfähiger Staat und eine prosperierende Wirtschaft. Entsprechend groß sind die Desillusionierungspotentiale, aber auch die Anforderungen für eine Neuorientierung.

Selbst mit bescheidenen Wachstumsraten lassen sich die gesellschaftlichen Probleme nicht mehr lösen, so die erste These Wehners. Das politische System kommt nicht minder in Legitimationsschwierigkeiten, wenn die Wachstumsphilosophie nicht mehr wie früher die Arbeitslosigkeit abbauen, die Staatsfinanzen konsolidieren oder Verteilungsgerechtigkeit herstellen hilft. Doch in den Köpfen tut sich recht wenig: Die real existierende sozialistische Planwirtschaft hat das Monopol aller Irrtümer erhalten, kaum jemand analysiert mit entsprechender Tiefenschärfe die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fehlleistungen kapitalistischer Gesellschaftsordnungen.

Was nun? Die Fehlentscheidungen der restaurativen Vereinigungspolitik sind längst unumkehrbar. Dazu zählen, um nur einige zu nennen, die Währungsumstellung, der vermutlich folgenschwerste Beitrag der politischen Klasse; Lohnsteigerungen, die die Belastbarkeit der Ost-Betriebe überschritten; verfehlte Eigentumsregelungen; eine Arbeitsmarktpolitik, die falsche Illusionen weckte, oder eine Sozialpolitik, die vielen die Eigeninitiative raubte. Je schwächer diese aber als Konflikt institutionalisiert sind, desto weniger Anlaß bieten sie, die gewohnten Bahnen politischen Denkens und Handelns zu verlassen. Das Ergebnis: Statt die Energien auf die wirklichen Probleme wie das ökonomische West-Ost-Gefälle zu richten, werden Vorurteile, gegenseitige Schuldzuweisungen und Legenden gepflegt.

Welche Kurskorrekturen letztendlich Aussicht auf politischen Erfolg haben, hängt laut Wehner zu guten Teilen von den herrschenden ideologischen Dispositionen ab. Die Manövrierunfähigkeit der gesamten politischen Klasse zeigt sich darin, daß sie bislang nicht in der Lage war, konzeptionelle Irrtümer der Vereinigungsphase zu revidieren. Bestes Beispiel: der gescheiterte Solidarpakt.

Auch was die Zukunft anbelangt, zeigt sich Wehner nicht gerade optimistisch: Die gesamtdeutsche Krise leiste protektionistischen wie interventionistischen Tendenzen Vorschub und deute nicht gerade auf eine Suche nach innovativen politischen Lösungsstrategien hin. Zudem kramen die politischen Kräfte alte Rezepte aus der Mottenkiste, was neben einer zunehmenden Polarisierung befürchten läßt, daß die Fehler der 60er und 70er Jahre wiederholt werden.

So einleuchtend Wehners Analyse der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Vereinigungsmisere auch sein mag, eigene Lösungsansätze hat auch er kaum zu bieten: eine drastische Mineralölsteuererhöhung für den Aufbau im Osten, eine Risikoentlastung für ostdeutsche Unternehmen oder die Förderung der Mobilität ostdeutscher Arbeitsloser. Und eine Währungsreform als letzte Finanzierungsalternative, um sich der zur Jahrtausendwende auftürmenden Schuldengebirge zumindest teilweise zu entledigen, mag zwar moralisch nicht verwerflich sein, aber ob sie politisch und wirtschaftlich Sinn macht, ist mehr als zu bezweifeln. Erwin Single

Burkhard Wehner: „Deutschland stagniert. Von der ost- zur gesamtdeutschen Wirtschaftskrise“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, 196 S., 19,80 DM