■ Zur Direktwahl des Bundespräsidenten
: Zivilgesellschaftlicher Kitsch

Die Aura des Konjunktivs, ja der Fiktionalität, die kleine Oppositionsgruppen umgibt, verweist mitunter auf den Allgemeinzustand der saturierten Majorität. Sie, der nichts unantastbarer erscheint als die Wirklichkeit, verlängert allemal das wirkliche Elend. Es ist daher keineswegs realitätsblind, Reformvorschläge auszuarbeiten, die von einbetonierten Parlamentsmehrheiten bestenfalls mit Anstand ignoriert werden: einerlei, ob die Abwicklung des Verfassungsschutzes oder die doppelte Staatsbürgerschaft zur Debatte steht. Was hier in den Archiven versinkt, bleibt Merkposten für Zeiten, da politische Phantasie mehrheitsfähig wird.

Anders verhält es sich mit Vorschlägen, die nicht nur chancenlos sind, sondern keinen rechten Sinn ergeben. Die Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk zählt zu diesen tagespolitischen Blüten. Gewiß, die Sache liegt im Trend. Doch was verschlägt's. Wo Parteien- von Selbstverdruß schwer zu unterscheiden ist, finden sich dubiose Mehrheiten zuhauf. Dabei sieht es gar nicht danach aus, als seien Mehrheit und Präsident sonderlich aufeinander angewiesen.

Nein, „Weimar“ ist kein Argument, schon gar nicht gegen Plebiszite. Der Reichspräsident gehörte bekanntlich nicht deshalb zu den Totengräbern der Ersten Republik, weil er vom Volk gewählt wurde, sondern weil er, etwa mit dem Notverordnungsrecht, über weitreichende exekutive Vollmachten verfügte. Die Machtübertragung an die Nazis (durch ein Selbstentmächtigungsgesetz des Reichstags übrigens parlamentarisch vollendet) ist also kein Argument gegen einen plebiszitär legitimierten, sondern gegen einen mächtigen Präsidenten. Hier liegt der Kern der Sache.

Es gibt nach wie vor vernünftige Gründe, dem deutschen Präsidenten keine Macht zu geben, sondern ihn, sicher ist sicher, mit der Verleihung von Orden, mit Weltreisen oder der Beurkundung von Bundesgesetzen zu beschäftigen. Wer also, wie viele Anhänger der Direktwahl, an dieser strikt repräsentativen, um nicht zu sagen dekorativen Funktion des Amtes festhalten will, muß erklären, welche Rolle das Volk bei der Verzierung der Republik denn sinnvollerweise spielen könnte.

Natürlich lassen sich Plebiszit und Repräsentation koppeln, dem widerstreitet keine Verfassungssystematik. Letzteres behaupten nur jene, die auch sonst, bei jeder anderen Variante direkter Demokratie, um keine faule Ausrede verlegen sind. Man kann also den Präsidenten direkt wählen lassen, die Frage ist nur: warum sollte man? Um die „Autorität“ des Amtsinhabers zu stärken? Der Präsident, die Präsidentin hat einzig jene Autorität, die er oder sie persönlich ausstrahlt. Eine Repräsentationsfigur, die das machtentrückteste Amt im Staate verwaltet, hat nichts anderes aufzubieten als politische Rhetorik und klug plazierte symbolische Gesten. Das will gekonnt sein und hat mit dem Wahlmodus nichts zu tun.

Ein vom Volk mit knapper Mehrheit „autorisierter“ Präsident mag sich im Laufe der Zeit als ausgesprochener Amtsversager profilieren. Umgekehrt können unscheinbare, von der Bundesversammlung gewählte Kandidaten ganz passable Würdenträger abgeben: Richard von Weizsäcker, der zum Liebling einer wohltemperierten „Bürgergesellschaft“ avancierte, hat es unter Beweis gestellt.

Der Sache von Minderheiten wäre durch eine Direktwahl am allerwenigsten gedient. Denn im zweiten Wahlgang findet der Auftritt von Zählkandidaten ein jähes Ende; Chancen hat nur, wer eine der großen Parteien hinter sich weiß. Und die Möglichkeit, sympathische Verlierer ins Rennen zu schicken, gibt es bekanntlich heute schon. Eine nicht gerade zündende Idee – die Wahl des höchsten Staatsschauspielers durch das Publikum. Abgesehen davon, daß eine wackere Präsidentin sich nicht zuletzt auf ordentliche Publikumsbeschimpfung verstehen muß. Fremdenfeindlichkeit zum Beispiel verdient gerade dann beim Namen genannt zu werden, wenn sie sich anschickt, die Massen zu ergreifen.

Nüchtern betrachtet, entpuppt sich die jüngste Diskussion um die plebiszitäre Legitimation des Präsidenten als ein schlechter Anwendungsfall auf eine diskutable Sache. Und findet vielleicht deswegen so milden wie folgenlosen Beifall. Nützlicher als zivilgesellschaftlicher Kitsch dieses Strickmusters wäre Reformphantasie mit machtpolitischen Ambitionen. Für die fällige Relativierung (nicht: geringschätzende Verachtung) der Parteiendemokratie gibt es bessere Ansatzpunkte.

Der Ernstfall auf die Bürgerbeteiligung ist die Inthronisierung des Souveräns als gleichberechtigter (nicht: klügerer) Gesetzgeber – durch Volksbegehren und Volksentscheid in allen Sachfragen, die Verfassungsrevision eingeschlossen. Doch Obacht! Wer beim Gedanken an „falsche“ Mehrheiten das Verbot der Todesstrafe fallen sieht oder wortgewaltige Demagogen fürchtet, möge von Plebisziten schweigen. Und sich, statt dem realen Volk mehr direkten Einfluß zu verschaffen, mit der rhetorischen Berufung auf ein pflegeleicht- ideelles begnügen.

Die Bürgerbeteiligung an der politischen Hardware bringt zweifelsohne tiefe Einbrüche in das herkömmliche Verfassungs„system“ mit sich. Wie anders aber könnte dessen repräsentative Schlagseite behoben werden? Das deutsche Parteienkartell ist indes durch Stimmenthaltung und „Protest“wahl noch nicht abgestraft genug, um in dieser Hinsicht substantielle Zugeständnisse zu machen. Seine Funktionselite denkt gar nicht daran, daß ihr eines schönen Tages italienische Verhältnisse blühen könnten!

Unsere Vorfreude auf diese Krise wird allerdings durch die Ungewißheit getrübt, wie deren Lösung wohl ausfallen mag. Gerade hierzulande ist damit zu rechnen, daß gegen verkrustete demokratische Strukturen kein aufgeklärtes Mehr, sondern ein autoritäres Weniger an Demokratie mobilisiert wird.

Die Initiative für den Volkspräsidenten ist, aufs ganze gesehen, von solch bestechender Harmlosigkeit, daß selbst der recht hypothetische Fall ihrer Verwirklichung nicht weiter schadete (schließlich wählen auch andere Völker ihr Staatsoberhaupt). Doch ist weder der diffuse Wunsch nach Bürgerbeteiligung und schon gar nicht das Staatstheater um einen Kohl-Kandidaten (wie heißt er doch gleich wieder?) ein hinreichender Grund, das Volk an die Urnen zu rufen; ein Volk, das nicht einmal über seine alte Verfassung abstimmen wird. In dem Ansinnen, einen ideellen Gesamtdeutschen zu wählen, rührt sich, merkwürdig genug, ein selbstvergessenes Verlangen nach Stellvertretung.

Man mag den Parteien so wenig zutrauen, wie man will, doch die Auswahl einer vorzeigbaren Galionsfigur sollen sie getrost unter sich ausmachen. Was gehörige „Bürgerbeteiligung“ übrigens nicht ausschließt: Wer einen vertrottelten Präsidenten wählt, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg

Ein Interview mit Wolfgang Ullmann, in dem er die Direktwahl des Präsidenten vorschlägt, erschien am 14.2. auf dieser Seite.