Unchristlich und unhygienisch?

■ Boxen in Wandsbek: Dariusz Michaliszewski bekommt nach 45 Sekunden eine Kopfnuß und wird zum Sieger erklärt

Altgediente Szeneasten sind konsterniert. „Die ham' wohl alle ne schwache Blase“, versucht sich einer die respektlose Umtriebigkeit in der Wandsbeker Sporthalle zu erklären.

Es ist Sonnabend, 20 Uhr. Noch vier Kämpfe bis der Tiger kommt. „Hoffentlich kriegen wir kein Blut ab“, lügen ein paar Neulinge lüstern, während die Hosen der Boxer im ersten Fight rote Flecken bekommen. Die Masse scheint noch gelangweilt.

Gleichmäßig schwankt der Pferdeschwanz einer Banknachbarin hin und her. Im Schoß hält sie ein auf Kroko getrimmtes Täschchen, an dem zwei kartoffelgroße Boxhandschuhe mit der Aufschrift „Rocky“ baumeln. Prominenz ist nicht wirklich anwesend. Man ist hier zu alt um sich an Marky Mark zu erfreuen und den Olympiasieger im Diskuswerfen von 1984, Rolf Danneberg, erkennt auch niemand. Dafür überträgt der Pay-TV-Sender Premiere.

Die Hymne zur Handtasche dröhnt zwischen den Kämpfen aus den Boxen. Das Hauptereignis an diesem Abend, der Halbschwergewichts-Kampf zwischen Dariusz „Tiger“ Michalczewski und dem „Busfahrer aus San Jose“ David Vedder, wird höchstens eine gute halbe Stunde dauern. Eine derartige Kürze rechtfertigt kaum die Eintrittspreise zwischen 20 und 50 Mark. Deshalb gibt es ein vierteiliges Vorspiel und den traditionellen Rauskehrer.

Das unspektakuläre Drumherum jedoch verdeutlicht, was das Boxen so sympathisch macht. Die antretenden Schwer-, Halbschwer-, Mittel-, Superwelter- und auch die Federgewichtler agieren in echt brechtschem Sinne: Sie betreiben Sport offensichtlich nicht aus Körperpflege. Während alle sonstigen Sparten des Leistungssports fälschlicherweise noch immer von einer Aura des Gesunden umweht sind, ist das „Geben-Ist-Seliger-Denn-Nehmen“ des Boxens ebensowenig christlich wie hygienisch. Eindeutig wie eine Gerade eben, deren Wucht durch die mitschwingende Schulter des Schlagarms aus dem ganzen Körper kommt.

Die Rahmenkämpfe sind, bis auf den des pointiert und flink aus der Deckung heraus agierenden Superweltergewichtlers Michael Löwe gegen Antonio Daga, einfach nur brutal. Langsam weiß dies auch das Publikum zu goutieren. Echte Boxer und ihre Gefolgschaft halten, trotz Bestrebungen zur Imagepolitur seitens der Manager, nichts von zuviel Eleganz im Boxsport. Ein „Gentleman“ wie Henry Maske wird vom Tiger verächtlich als „Schönschläger“ enttarnt. 300 Mark spenden die „Hells Angels Germany“ für den Schwergewichtler Christian Hohnhold. „Hau ihm die Pizza auss'm Kopp, Mensch“, feuern Fans den 25jährigen Hamburger Löwe gegen seinen italienischen Konkurrenten an. Der 68 Kilo leichte Antonio Daga verliert den Kampf. Später scheitert er beim Versuch, zwei Cola zu ordern. Und: Ein Boxer, der sich am überfüllten Getränketresen nicht durchsetzen kann, stimmt unheimlich traurig.

Aufmunterung verspricht das Erscheinen des Winners im Stall von Universum-Box-Promoter Klaus Peter Kohl. Alle seine 20 Profikämpfe hat der internationale deutsche Meister Dariusz Michaliszewski bisher gewonnen, 18 davon durch Knockout. Und wenn der 25jährige Tiger, dessen Bubicharme allein durch sein gebrochenes Nasenbein gemildert wird, gegen den vier Jahre älteren David Vedder gewinnt, kann er Platz 1 der IBF-Weltrangliste einnehmen. Der Herausforderung seines Lieblingsfeindes, des IBF-Weltmeisters Henry Maske, steht dann nichts mehr im Wege. Michalczewskis Kampfgewicht beträgt 80,8 Kilo , sein Gegner ist 400 Gramm leichter.

Um 22.32 Uhr stehen sich der Tiger und der unbequeme letzte Gegner Maskes, David Vedder, dem Insider außerordentliche Nehmerqualitäten bescheinigen, im Ring gegenüber. Um 22.33 ist der Kampf vorbei. Warum? Nun, der dunkelhäutige Amerikaner verpasste dem Tiger blitzschnell und für Laien kaum wahrnehmbar, eine Kopfnuß. Blut troff daraufhin von des Täters Stirn und aus einem Riß über des Tigers linker Braue. Ein klarer Fall für Ringrichter Heinrich Mühmert: „Unsere Regeln besagen eindeutig, daß der, der mit dem Kopf stößt, disqualifiziert wird.“

„Das war ja ein schneller Abend“, fühlt sich ein Banksitzer, im Einklang mit dem Rest der Zuschauer in der mittlerweile ausverkauften Halle, betrogen. Ähnliches fühlte auch der Sieger, Dariusz Michalczewski: „Ich boxe noch einmal gegen den Mann, hier oder in einer größeren Halle. Das läßt mich sonst niemals in Ruhe.“ Nicht allein die neun um ihren Einsatz betrogenen Nummerngirls werden es ihm danken.

Claudia Thomsen