Sanssouci
: Nachschlag

■ "Geschichte als poetischer Entwurf", die zweite

„Europa ist jetzt anfällig für den Islam mit seinen Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit“, rief Abdoljavad Falaturi mit großer Gebärde in den Raum. Doch die knapp 30 Zuhörer in der Pankower „literaturWERKstatt Berlin“ ließen sich an diesem Freitagabend von einer islamischen Renaissance in Europa nicht zu unbedachten Reaktionen hinreißen. Auch Falaturis Diskussionspartner Zafer Șenocak blickte nur kurz von seinem Schreibblock auf und schien sich dann weiter Notizen zu machen. Von Moderator Fritz Rudolf Fries darauf angesprochen, gab der 1961 in Ankara geborene Schriftsteller sich jungenhaft charmant. Nun, er schreibe nicht nur, er male eben auch.

Da hatte es Fries schwer, in der zweiten Veranstaltung seiner Reihe „Demokratie oder Utopie – Geschichte als poetischer Entwurf“ die Kontrahenten miteinander in eine Diskussion zu bringen. Im einleitenden Essay beschrieb der seit 1970 in Deutschland lebende Zafer Șenocak die islamische Religionsgeschichte. Nach dem 14. Jahrhundert hätte die islamische Elite die Reformierung des Glaubens „vergessen“, und so sei der Islam der Mullahs im Iran, der Hisbollah im Libanon oder der FIS in Algerien heute totalitär. Paradoxerweise gleiche er in seiner luftdichten Abgeschlossenheit von der Wirklichkeit dem Bild, das die europäischen Kolonialstaaten im letzten Jahrhundert von ihm entworfen hätten. Die zunehmende islamkritische Reflexion, hoffte Șenocak, werde die islamische Aufklärung nachholen und auch den Westen nicht unverändert lassen.

Eine Erneuerung des Islam wünschte auch Abdoljavad Falaturi, Kölner Professor für Islamwissenschaften und Mitglied des Obersten Rates für die Angelegenheiten der Islamischen Welt in Kairo. Als Richtschnur solle der Koran gelten – ein Wort, das Falaturi mit schönem kölschen Akzent dehnte. Mühelos Suren zitierend, rühmte er schwärmerisch die Blütezeit des Islam bis zum 14. Jahrhundert; damals wie heute sei alles Übel von der Politik gekommen. Für die Todesdrohung gegen Salman Rushdie allerdings fand der Professor im Koran tatsächlich einen Beleg: Strafe erhalte ein vom Glauben Abgefallener, sofern er sich feindlich zum Islam verhalte.

Obwohl sich Șenocak zuvor für die Freiheit der Kunst und insbesondere Rushdies ausgesprochen hatte, hakten weder er noch Fries hier nach. Es gebe in der islamischen Welt keinen freien Raum der Diskussion, beklagte Șenocak. Im Westen schon, so Falaturi. Dann verfiel der eloquente Professor wieder in kleine Exkurse zur Religionsgründung, über konkurrierende Glaubensschulen, die Bedeutung des Islam für Europa sowie seine Toleranz gegenüber Christen und Juden – die berühmte „Tischgemeinschaft“ der drei großen monotheistischen Religionen. So gelang es der kleinen Tischgemeinschaft in Pankow jedenfalls, eine Ahnung von den Widersprüchen des Islam zu vermitteln. Jörg Plath