Ins Mikroport geweint

■ Studenten lieben Hanns Henny Jahnn. So sehr, daß sie sogar seinen "Richard III." inszenieren

Der letzte Mensch auf der Bühne ist oft der Verlierer. Traurig liegt König Richard am Boden und hadert mit Gott. Er wollte so viel: die Gesellschaft verbessern, doch nun hat sie ihn schlechtgemacht. Böses verhüten, doch nun hat er Schlimmes zu verantworten. Verständlich, daß er verzagt, einsam und enttäuscht ist. Aber so geht der Lauf der Welt. Wer König ist, kann nicht in den Himmel wollen!

Dieser Richard III. ist natürlich nicht die Erfindung Shakespeares. Keinen machthungrigen Erzbösewicht sehen wir, sondern einen verängstigten Menschen. Er leidet unter seinen „viehischen Gelüsten“, der grausamen Welt und verübt nur schlechten Gewissens seine Schandtaten. Wenn er die kannibalistische Elisabeth zur Ehe zwingt oder die unschuldigen Prinzen tötet, vernichtet er nur, was er liebt. Ein Mörder für den Frieden. Ein Opfer der Geschichte. Der König als Puppe „für schlechte Späße eines ungerügten Teufels“. Ein heimlicher Bruder Dantons.

Hanns Henny Jahnn ist der Dichter, der dieses Spiel erfunden hat. Erstmalig und letztmalig war es 1926 in Berlin zu sehen. Prädikat: „Ausgeburt von Dreck und Feuer“. Das Stück kam wohl in den Giftschrank, Jahnn in die Schublade für „unspielbare Fälle“. Unfaßbar war sein Werk. Die archaische Gefühlsgewalt, die es heraufbeschwört, verletzte bedenklich das Ideal des Guten-Wahren- Schönen. Die von dunklen Trieben geleiteten Menschen verekelten dem sich aufgeklärt, ratio-bestimmt gebenden Bürger das Theater. Kühne, ekstatische Bilder, überladene Satzkonstruktionen, Pathos und Kitsch waren Fauxpas wider die Regeln der Kunst. Und noch dazu sind die Stücke unanständig lang, geradezu monströs. (So etwas verzeiht man nur Goethe.) Und auch der Charakter des Autors war nicht ganz geheuer: Pazifist, Erotiker, Glaubensstifter, Orgelbauer, Emigrant, Atheist, Hormonforscher. Manche sahen in ihm auch einen Sozialisten, andere gar einen Faschisten, dabei war er wohl einfach nur ein Außenseiter oder, genauer, wie Herbert Ihering ihn nannte: „ein Dichter gegen die Zeit“.

Nun jährt sich für Hanns Henny Jahnn (17.12.1894–1959) jedoch der hundertste Geburtstag, die Zeit ist gekommen, sich des Dichters zu erinnern. Germanisten blättern nun besonders eifrig in seinen Romanen und vergleichen ihre exzeptionelle Technik mit Joyce, Theaterleute kramen seine Dramen hervor, wissen aber nicht, mit wem sie ihn messen sollen. Besonders hervorgetan bei dieser Erinnerungsarbeit, der Durchsetzung eines Autors (von Wiederentdeckung kann keine Rede sein), hat sich die Studiobühne der FU. Seit einem Jahr denken, spielen, tun die Studenten scheinbar nichts anderes, als sich mit Jahnn zu beschäftigen. Sie inszenierten die „Strassenecke“, sie brachten „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“ auf die Bühne, sie produzierten gar eine Uraufführung der „Familie Jakobsen“, sie proben die „Spur des dunklen Engels“, und sie sind auch verantwortlich für „Die Krönung Richard III.“. Werkschau nennen sie das, was genaugenommen eine Demonstration ist. Sie führen vor, daß Jahnn aktuell, wichtig, spielbar ist. Sie wollen aber auch darlegen, wie seine Stücke zu bewältigen sind. Vielleicht so: Der expressionistische Furor wird in scharfe Stilisierung gedrängt, die fiebrige Sprache erklingt im wohlgeformten Rhythmus, die Schreckbilder des Textes werden nie ausgepinselt, sondern wie Metaphern gesprochen. Niemand brüllt oder hetzt, kein Blut oder Sperma spritzt, Liebe und Lust, Tod und Mord sind hier fast so rein wie Sakramente. Von gelegentlichen Abstürzen in unfreiwillige Komik mal abgesehen. Die Studenten lieben Jahnn sehr.

Beim „Richard“ haben sie mutig etwas Neues ausprobiert. Um die barocke Sprache zum Klingen zu bringen, wurde die Samariterkirche in Friedrichshain als Spielstätte ausgeguckt. Wir Zuschauer hocken auf einer kleinen Tribüne, die wohl vor dem Altar errichtet wurde, und bestaunen erwartungsfroh ein abgeblättertes Kreuzgewölbe und imposante Orgelpfeifen. Da drunter, mal im Mittelgang, selten auf den Seitenemporen, zumeist auf orangen Spielflächen, die über das Gestühl gelegt sind, entfaltet sich das erstaunlich verkürzte Drama allerdings nur als Sprechspiel. In langen Monologen klagt Richard über die Welt: Markus Böcker besitzt einen schwarzen Waffenrock und schwarze Augen, er weint oftmals im Schoß eines Knaben, haucht empfindsam sein Weh ins Mikroport und schlägt einmal sogar in ungeahnter Wut ein großes Kreuz entzwei. Das ist seine ganze Kunst. Seine Gegenspieler, so die Dramaturgen sie überhaupt auftreten lassen, bleiben noch blasser. Elisabeth, die immerhin Knaben verführt, kastrieren läßt, aufessen möchte – die Inkarnation des Bösen also –, wird mit wippender Peitsche, wogendem Busen, wilder Mähne zum Vamp verkleinert. Die Prinzen gar markieren nur verschüchterte Milchbubis. Keine Seelenriesen, nur Winzlinge. Was Jahnns Figuren aufwühlt, was sie schuldig oder unschuldig macht, die abgründige Tiefe dieser Charakter bleibt in der Inszenierung von Marcel Pomplun uninszeniert. Man soll es wohl nachlesen. Das Theater als Lektüreempfehlung. Immerhin.

Die Herausforderung Jahnn bleibt also für die Bühne weiter bestehen. Er ist ein Koloß, aber auch Shakespeare war ein Koloß. Und den spielen die Deutschen am liebsten. Von Pforzheim bis Neustrelitz. Warten wir, hoffen wir. Auf den sogenannten kongenialen Regisseur. Dirk Nümann

„Die Krönung Richard III.“ von Hanns Henny Jahnn. Regie: Marcel Pomplun, Bühne: Thomas Gabriel. Mit Markus Böcker, Anette Sopp, Gabriel Frericks, Marius von Mayenburg u.a. Studiobühne der FU Berlin. Weitere Vorstellungen: bis zum 28. Februar täglich 20 Uhr, Samariterkirche Friedrichshain, Samariterplatz