Die Musik kommt aus dem Knie

■ "Offen, frei, kreativ" empfindet Joelle Leandre, derzeit Stipendiatin des DAAD, das Klima in Berlin. Die Musikerin aus Paris in einem Gespräch über Improvisation, Komposition und Unberechenbarkeiten

Joälle Léandre, Kontrabassistin und Sopranistin aus Paris, bezeichnete sich selbst als Duettistin – sie selbst ist ihre eigene Partnerin, indem sie den Baß mit der Stimme verdoppelt. Sie trat in Berlin bereits auf dem Musikerinnen-Festival „Wie es ihr gefällt“ auf. Seit Januar lebt und arbeitet sie hier.

taz: Sie leben seit kurzem in Berlin – mit einem DAAD-Stipendium. Was, meinen Sie, wird sich für Sie im Vergleich zu Paris verändern?

Joälle Léandre: Ich glaube, es wird wunderbar in Berlin. Berlin erinnert mich immer an New York. Es herrscht ein ähnliches Feeling hier in der Stadt. Offen, frei, kreativ. Spannend ist die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, natürlich auch wichtig für die Musik. Cage sagte immer: Je verschiedener die Künste, um so mehr kommunizieren sie miteinander. Paris ist im Grunde schrecklich. Alles in der Musik hat dort seinen Ort, das Orchester, die Oper, die Neue Musik, trotzdem oder deswegen ist alles eigenartig leblos. Keine Versuche, kein Risiko. Frei nach Breton: Die Musik muß unberechenbar sein – oder sie ist nicht.

In Paris haben Sie mit klassischer Musik im Orchester angefangen. Dann Bassistin im Ensemble Intercontemporain von Pierre Boulez, viel Neue Musik, dann Jazz. Heute machen Sie vorwiegend improvisierte Musik. Was bedeutet diese Entwicklung für Sie?

Es war ein langer Weg bis zur improvisierten Musik. Die klassische Musik war wichtig, um mein Instrument gut zu kennen, um mit ihm reden zu können. Der Wechsel zur zeitgenössischen Musik ging dann sehr schnell. Immer wieder hat man gesagt, der Kontrabaß sei ein Begleitinstrument. Ich sagte: Nein, ganz und gar nicht. Es gibt ein paar Verrückte zur Zeit auf dieser Welt, die beweisen, daß der Kontrabaß auch ein Soloinstrument ist. Ich habe dann viel mit zeitgenössischen Komponisten zusammengearbeitet, mit John Cage, Morton Feldman – über zehn Jahre ging das. Der Kontrabaß war im Grunde vergessen. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil er so groß und fett ist. Ich denke, erst durch die Neue Musik wurde der Kontrabaß wirklich als Instrument entdeckt. Heute schreiben immer mehr Komponisten direkt Stücke für Kontrabaß. Mein Weg war also ziemlich klassisch. Klassische Musik, Neue Musik – das ist gelehrte Musik. Heute mache ich das, was man vielleicht kreative Musik nennen kann.

Kreative Musik? Das Etikett kenne ich noch gar nicht...

Nun ja, hier geht es um Musiker und Musikerinnen, die sich die Fragen unserer Zeit stellen. Kreativ ist ein Künstler, da bin ich traditionell und progressiv zugleich, wenn er die Welt auf seine Weise nachbildet. Man hat es doch satt, ständig die Musik von Toten zu spielen. Man hat immer nur die Musik von Toten gespielt. Für mich ist das nekrophil. Wir müssen die Musik unserer Zeit spielen. Aber das fällt nun mal nicht vom Himmel, bedeutet täglich harte Arbeit. Natürlich interpretiere ich auch oft noch Stück anderer Komponisten. Aber wenn du selbst etwas schaffst, dann bearbeitest du den Ausdruck von etwas, das du im Bauch, im Kopf, im Fuß, im Knie oder sonstwo hast. Zugleich ist es richtig, daß auch das Interpretieren eines Stücks bedeutet, daß man das Stück in gewisser Weise nochmals komponiert. Selbst ein Konzert von Vivaldi oder Bach. Interpretation heißt immer auch Komposition.

Welchen Unterschied machen Sie zwischen Komponieren und Improvisieren?

Es sind zwei Dinge, die diametral einander entgegengesetzt sind, zur gleichen Zeit aber beinhaltet das Komponieren immer ein großes Maß an Improvisation. Es ist nicht nur so, daß man Papier und Bleistift in die Hand nimmt – und dann ist es auf einmal alles da. Das ist ja Romantik. Statt dessen ist da das weiße Blatt Papier. Die Improvisation ist vielleicht so etwas wie eine geistige Partitur, schnell, plötzlich, mit allen Fehlern. Bei der Komposition hast du zusätzlich noch einen Bleistift und einen Radiergummi. Du kannst überarbeiten, entscheiden. Bei einer Improvisation bist du nackt. Ganz allein. Die Improvisation ist fragil, weil du viel mehr riskierst. Sie ist vergänglich, verschwindet. Man findet sie nie mehr wieder. Man spielt sozusagen sein Leben, nicht für die Ewigkeit.

Ist die improvisierte Musik die höhere Form?

Nein, ganz und gar nicht. Vielmehr treiben mich diese beiden Zwillingsschwestern, Komposition und Improvisation, ständig um und zerreißen mich. Was ich liebe, ist der Moment, wo komponierte und improvisierte Musik zueinander finden. Sie ziehen sich an – aber sie können nicht zusammen leben. Improvisation, das ist die ganze Lust der Musik, das ist Körper. Viel zu oft wird dagegen die Komposition intellektualisiert.

Sie haben Cage einmal etwas pathetisch als „geistigen Vater“ bezeichnet. Aber Cage stand der Idee der improvisierten Musik immer skeptisch gegenüber.

Ganz am Ende nicht mehr. Ich habe lange und immer wieder mit ihm über Improvisation geredet. Er sagte mir, daß er selbst sogar manchmal improvisiert habe. Aber es stimmt, Cage war skeptisch. Er meinte, es gebe beim Improvisieren einen Prozeß der Erinnerung und der Codes, den der Musiker immer wieder findet und auf den er zurückgreift. Daher glaubte er nicht an die Improvisation. Es ist wahr, daß man, wenn man über Jahre hinweg ein Instrument spielt, Codes hat. Man erinnert sich einfach. Das war es, wogegen Cage immer rebellierte. Die wirkliche Improvisation wäre für ihn nur mit einem Instrument möglich gewesen, das man nicht kennt. Vielleicht ist das tatsächlich die einzig reine, leere Improvisation. Interview: Andrea Kern