Unnötige Flüchtigkeitsfehler

■ Das Gutachten zur Situation der Bildenden Kunst in Berlin liegt vor

Der Berg hat gekreißt und schließlich unter vernehmbarem Ächzen ein Kind geboren – ca. 115 Gramm schwer, DIN-A4-Format, sechzehn Seiten stark (inklusive Deckblatt): das Gutachten zur Situation der Bildenden Kunst in Berlin. Mit Spannung war erwartet worden, was Wim Beeren und Kaspar König, zwei ausgewiesene Kenner der zeitgenössischen Kunst – ehemaliger Direktor des Amsterdamer Stedelijk Museum der eine, Leiter des Portikus und Rektor der Städelschule in Frankfurt/Main der andere – ihrem Auftraggeber, dem Kultursenator, über die hiesige Kunstszene zu berichten haben.

Der Titel der Studie ist insofern irreführend, als daß Beeren und König sich mitnichten der gesamten Berliner Kunstlandschaft angenommen haben, sondern nur desjenigen Teils, der unter die Zuständigkeit des Senats fällt. Was die beiden Gutachter nicht davon abgehalten hat, erst einmal kräftig auszuteilen. In keiner anderen Stadt erlebe man im Bereich der Gegenwartskunst so viel Selbstüberschätzung, es fehle an „Diversität“ und „Fragestellung“. Scharf kritisiert wurden die Berlinische Galerie, die beiden Kunstvereine NBK und NGBK, der Künstlerhof Buch und das System der Berliner Künstlerförderung, deren Jury laut Beeren und König in Zukunft im Rotationsverfahren besetzt werden sollten. Dagegen setzten sich beide vehement für die Erhaltung des DAAD-Künstlerprogramms und des Hauses der Kulturen der Welt ein, ebenso für den Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie, die die Architektursammlungen der Stadt aufnehmen soll.

Nachhaltig befürwortet wurde auch die Weiterführung der Staatlichen Kunsthalle, für die ein eigener Bau und die internationale Ausschreibung des Postens der künftigen Leiterin gefordert werden. Aus dem Martin-Gropius- Bau soll nach dem erhofften Umzug der Berlinischen Galerie in das Postfuhramt an der Oranienburger Straße das lang ersehnte internationale Ausstellungshaus werden, veranschlagte Kosten pro Jahr: 22 Millionen Mark. Die Akademie der Künste wurde beschworen, auf „inzestuöse“ Selbstbeweihräucherungen zu verzichten und ihre Räume mindestens einmal pro Jahr wechselnden Gastkuratoren zu überlassen.

Im ganzen betrachtet birgt das Beeren/König-Gutachten wenig Überraschungen. So verdienstvoll die klaren Worte von Beeren und König sind, so zwiespältig ist der Gesamteindruck, den dieses oft allzu knapp und flapsig formulierte Gutachten hinterläßt. Es weist eine ganze Reihe von unnötigen Flüchtigkeitsfehlern, Ungenauigkeiten und Fehlinformationen auf – ganz abgesehen von einem eklatant westlich orientierten Blick. So zeugt die Aufforderung, daß in bezug auf die ehemalige Akademiegalerie im Marstall jetzt „Vorschläge aus Ostberlin“ kommen müßten, schlicht von Unkenntnis der Lage, denn dieser Teil des Marstalls befindet sich längst unter der Obhut der Oberfinanzdirektion – und die sitzt in Bonn.

Auch das Tacheles wird zwar als sympathisches Projekt beschrieben, eine langfristige Förderung jedoch wollen Beeren und König dem Senator nicht raten. Eine institutionelle Unterstützung wäre ein Widerspruch zu dessen subkulturellem Charakter. Das mag stimmen – allerdings wird die städtebauliche Bedeutung der ehemaligen Friedrichstadtpassage dabei komplett außer acht gelassen. Gleiches gilt für die KulturBrauerei, die auch lediglich projektweise unterstützt werden soll, um nicht in Widerspruch zu dem dortigen „Provisorium“ zu treten. Es scheint so, als seien die Gutachter kein einziges Mal dort gewesen. Ruinenromantik ist in dem sozio- kulturellen Stadtteilzentrum schon lange kein Thema mehr. Andere Kunstvereine, wie zum Beispiel Botschaft e.V., der in den vergangenen Jahren immer wieder durch außergewöhnliche Aktionen auf sich aufmerksam gemacht hat, sind völlig unter den Tisch gefallen. Auch die pauschale und etwas arrogant wirkende Absage an die Kunst im Bahnhof Alexanderplatz kann nur Zynikern einleuchten. Und daß die Stiftungen Preussischer Kulturbesitz und Kulturfonds, an denen Berlin beteiligt ist, überhaupt nicht auftauchen, kann gerade noch als grobe Unterlassung gewertet werden – vor allem angesichts der Tatsache, daß die Stiftung Kulturfonds bis zum Ende des Jahres aufgelöst werden soll.

Eine bescheidene, aber pragmatische Diskussionsvorlage hat Kaspar König das Gutachten genannt. Bescheiden, ja – und bezeichnend für die derzeitige Lage in Berlin, in der die Verantwortlichen offenkundig nicht über genügend eigene Inspirationen verfügen und die „Fachleute“ das Streitgespräch mit dem Dampfhammer betreiben. Ulrich Clewing