Südkorea will Pjöngjang nicht durch Drohungen provozieren

■ Seoul setzt weiter auf einen Dialog in der Atomfrage

Seoul (taz) – Ein wenig hat sich die Lage auf der koreanischen Halbinsel entspannt, nachdem die Regierung in Pjöngjang kürzlich ankündigte, daß sie die Inspektoren der Wiener Atombehörde (IAEO) wieder ins Land lassen will. Allerdings hatte Nordkorea dies bereits mehrfach erklärt – und immer wieder zurückgenommen. Jetzt wird der Gouverneursrat der IEAO, der seit Montag in Wien konferiert, entscheiden müssen, ob er den Ankündigungen der nordkoreanischen Führung traut. In diesen Tagen wird sich auch zeigen, ob alle in diese Frage involvierten Länder endlich an einem Strang ziehen. Zwar ist man sich einig, daß ein so unsicheres Land wie Nordkorea keine Atomwaffen besitzen darf. Wie das aber verhindert werden soll, darüber gehen die Ansichten weit auseinander.

Bisher hat die Regierung Kim Il Sungs keine anderen Gesprächspartner als die USA akzeptiert – und die hatten lange Zeit auf Verhandlungen gesetzt. Doch angesichts fehlender Ergebnisse verlor die US-Regierung schließlich die Geduld. Im Juli 1993 warnte Präsident Bill Clinton während seines Besuchs in Seoul die nordkoreanische Regierung: „Wir werden niemals akzeptieren, daß Nordkorea die Atombombe besitzt. Wenn wir den Beweis haben, daß es sie herstellt, werden wir schnell und massiv eingreifen. Das könnte das Ende dieses Landes sein.“

Dann, im vergangenen Monat, erklärte die US-Regierung unter dem Druck konservativer US-Parlamentarier, sie wolle die UNO auffordern, Sanktionen gegen Pjöngjang zu verhängen. Zugleich verkündete das US-Verteidigungsministerium, es werde Patriot-Raketen nach Südkorea bringen, um die 37.000 US-Soldaten zu unterstützen, die dort ständig stationiert sind. Man sprach von einem möglichen Krieg in der Region. Unterstützung für die härtere Gangart fand Washington bei mehreren europäischen Staaten, die befüchteten, daß Nordkorea irgendwann einmal Atomwaffen in den Nahen Osten verkaufen könnte, vor allem an den Iran.

Diese Verhärtung trug sehr zur Beunruhigung Südkoreas bei, dessen Regierung von Anfang an den Dialog mit Pjöngjang predigt – einen Dialog, bei dem Seoul fehlt: Nordkorea weigert sich, mit dem Süden zu reden. Die direkten Drohungen gegenüber dem Norden könnten dazu führen, so die Befürchtung Südkoreas, daß sich Pjöngjang zu extremen Aktionen getrieben fühlt. Erstes Opfer etwa eines militärischen Angriffs oder von Terrorakten wäre die südliche Halbinsel. Das sieht man in Japan auch so. Die Führung des diplomatisch isolierten und wirtschaftlich ausgelaugten Nordkorea hat angekündigt, das es jede Sanktion von seiten der UNO als Kriegserklärung werten werde. Schon jetzt sind 70 Prozent der nordkoreanischen Truppen entlang der Grenze am 38. Breitengrad konzentriert.

Überdies fürchtet Südkorea, daß die Aktionen gegen Pjöngjang einen Sturz des nordkoreanischen Regimes zur Folge haben und die Wiedervereinigung beschleunigen könnte. Aber Seoul will eine schnelle Wiedervereinigung unbedingt vermeiden – es hat nicht die finanziellen Mittel, das Entwicklungs- und Einkommensgefälle zwischen beiden Koreas auszugleichen. Südkoreas Außenminister Han Song Joo eilte daher in der vergangenen Woche nach Washington, um die Position seines Landes darzulegen.

Die Regierung Clinton hat nun angekündigt, daß sie zunächst die Ergebnisse der Inspektionen in Nordkoreas Atomanlagen abwarten will. Erst anschließend wollen die USA diplomatische Kontakte auf hoher Ebene zu Nordkorea aufnehmen und „Team Spirit“ – das alljährlich von US- und südkoreanischen Truppen gemeinsam durchgeführte Manöver – absagen. Seoul hätte es lieber, wenn die USA diese beiden Forderungen des Nordens schon mit Beginn der Inspektionen erfüllen, noch bevor die Untersuchungsergebnisse bekannt sind.

Bis gestern hatte sich Nordkorea noch nicht entschieden, die Inspektoren der IAEO tatsächlich ins Land zu lassen. Denn die Wiener Behörde wird insbesondere die beiden geheimen Anlagen in Yongbyon überprüfen wollen – wo die Produktion von Atomwaffen vermutet wird – und sich nicht auf die sieben Anlagen beschränken lassen, die Pjöngjang offiziell deklariert hat.

Das Weiße Haus in Washington wirft Seoul vor, daß es ihm an Entschlossenheit gegenüber dem Nachbarn im Norden mangelt, der eine ernsthafte Bedrohung für das Gleichgewicht der Region darstellt. In der Tat haben Südkorea und die USA Unterschiedliches vor Augen: Der US-Regierung – die sich von der Tatsache irritiert fühlt, daß ein so kleines Land es wagt, sie herauszufordern – geht es um die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen auf Weltebene. Nach ihrem Verständnis kann man es unmöglich zulassen – ein Jahr bevor der Atomsperrvertrag ausläuft und neu verhandelt werden muß –, daß ein so unsicherer Staat wie das Reich des 82jährigen „Großen Führers“ Kim Il Sung Atomwaffen besitzt. Das würde einen Präzedenzfall schaffen, dem andere nacheifern könnten.

Seoul hingegen hat nur die Beziehungen zu seinem nördlichen Nachbarn im Blick. Dessen Wirtschaft und Politik widerspricht der südkoreanischen zwar diametral – doch Südkorea ist dazu verdammt, damit zu leben. Vielleicht aber erweist sich das Kalkül Seouls als zu kurzsichtig, falls Pjöngjang tatsächlich die Atomwaffe besitzt. Jean Piel