: Eine Dialysestation in der Moschee
Von Muslimbrüdern geführte staatsunabhängige Moscheen statt des maroden ägyptischen Sozialsystems ■ Aus Kairo Khalil Abied
Trrrrn ... trrrrn, knarrt das Telefon. „As-salam Aleikum – Friede sei mit euch“, tönt es vom anderen Ende der Leitung, als Hagg Hassan den Hörer abnimmt. „Aleikum As-Salam“, erwidert er. „Hier ist Polizeioffizier Mamduh. Hagg Hassan, ich brauche Ihre Hilfe. Wir haben in unserem Revier ungefähr ein Dutzend sehr arme Familien, die kaum etwas zu essen haben ...“ – „O.k., o.k., das geht in Ordnung. Am besten schicken Sie gleich jemanden vorbei.“ Eine knappe Viertelstunde später steht ein junger Polizist in einer abgewetzten schwarzen Polizeiuniform vor der Tür. Hagg Hassan drückt ihm einige große weiße Plastiktüten in die Hand, die vollgestopft sind mit Lebensmitteln: Reis, Zucker, Öl, Tee, Nudeln und getrocknete dicke Bohnen, genug für eine ganze Woche. Auf den Tüten steht in großen schwarzen Buchstaben: „Der Islam ist die Lösung.“ Darüber prangen zwei gekreuzte Schwerter, deren Klingen einen Koran umrahmen: das Zeichen ägyptischer Muslimbrüder. Es ist der Fastenmonat Ramadan, und in ganz Ägypten verteilen die islamischen Gruppen Lebensmittel an arme Familien.
Hagg Hassan ist Anfang sechzig und gehört seit seiner Jugend den in den zwanziger Jahren gegründeten Muslimbrüdern an. Der erste Teil seines Namens zeichnet ihn als Pilger aus, der bereits die Wallfahrt nach Mekka unternommen hat, die für gläubige Muslime Pflicht ist.
Offiziell sind die Muslimbrüder in Ägypten seit 1954 verboten. Im vergangenen Jahr lehnte das oberste Verwaltungsgericht nach einem 15 Jahre dauernden Prozeß ein Begehren der Organisation auf Wiederzulassung ab.
Hagg Hassan hat unter allen Regimen, die Ägypten in diesem Jahrhundert beherrschten, mindestens einmal im Gefängnis gesessen. Wie oft er inhaftiert wurde, weiß er nicht mehr. Das kürzeste Mal saß er drei Tage hinter Gittern, das längste Mal drei Jahre. Und vielleicht kommt morgen der gleiche Polizist, der jetzt die Tüten bei ihm abgeholt hat, um ihn zu verhaften.
In Al-Manial ist Hagg Hassan ungekrönter König
Dabei ist Hagg Hassan in seinem Viertel Al-Manial, einer Nilinsel mitten in Kairo, eine Respektsperson. In den schmalen Straßenschluchten leben Kleinhändler, Handwerker und schlecht verdienende Staatsangestellte. Elf Jahre lang hat Hagg Hassan die Bewohner dieses Viertels als Abgeordneter im ägyptischen Parlament vertreten. Bei den Wahlen 1984 und 1987 kandidierten die Muslimbrüder auf den Listen anderer Parteien und bildeten so die stärkste Oppositionsfraktion. Hätte die Opposition nicht seit 1990 die Wahlen boykottiert, säße Hagg Hassan wohl noch immer im Parlament. In Al-Manial ist er bis heute ein ungekrönter König.
Hagg Hassan ist im Vorstand des „Vereins zum Schutze des Korans“, einer der mehreren hundert Gruppierungen, unter deren Namen die Muslimbrüder ihre Aktivitäten entfalten – von der Regierung toleriert. Der Verein hat vor 15 Jahren die lokale „Manial-Moschee“ gebaut. Finanziert wurde das Projekt aus Spendengeldern. Obwohl das Gebäude nur einige hundert Meter von Hagg Hassans Wohnung entfernt liegt, braucht er mehr als eine halbe Stunde für den Weg. Fast jedem, den er trifft, muß er die Hand schütteln, und nicht selten wird er um Rat gefragt. Ein Händler hat Finanzprobleme, eine Frau will sich von ihrem Mann scheiden lassen ...
In Ägypten gibt es zwei Arten von Moscheen. Das sind zum einen die „Hukumi, die staatlichen Moscheen. Sie werden vom Religionsministerium gebaut und kontrolliert. Dann gibt es die „Ahli“-Moscheen. Sie werden mit Hilfe privater Spenden von islamischen Wohltätigkeitsorganisationen gebaut. Die meisten dieser Spender und Organisationen haben enge Beziehungen zu islamischen Gruppen. Die ägyptische Regierung wurde von diesen freien Moscheebauern in die Defensive gedrängt. Von den fast 50.000 islamischen Gotteshäusern landesweit gehören über drei Viertel zur Kategorie Ahli. In den meisten Armenvierteln, Dörfern und Slums bilden diese Moscheen die einzigen Institutionen, die den Menschen die notwendige Gesundheitsversorgung sowie soziale Dienste sichern.
Hagg Hassan betritt die Moschee durch eine Seitentür. Der dahinter liegende Raum gleicht einer Wartehalle. Fast zwanzig Menschen, Frauen mit Kindern und ein paar Männer, sitzen auf langen Holzbänken. „Das ist unsere Krankenstation“, erklärt Hagg Hassan. „Wir behandeln hier fast alles: Innere Erkrankungen, Lungenkrankheiten, Hals-, Nasen-, Ohren- und Augenbeschwerden.“ Dreißig Ärzte arbeiten in der Moschee. Von den Kranken kassieren sie nur einen symbolischen Betrag von einem Pfund, etwa 50 Pfennig. Ein „normaler“ Arztbesuch kostet das Zwanzig- bis Dreißigfache. Eine ebenfalls zu der Moschee gehörende Apotheke verkauft Medikamente zum Selbstkostenpreis.
Am Ende eines kleinen Ganges befindet sich in einem Zimmer das, was Hagg Hassan den „großen Stolz der Moschee“ nennt. Hinter einem Schreibtisch sitzt ein etwa vierzigjähriger Mann in einem weißen Kittel und ist in den Koran vertieft. „Bismi Allah ar-Rahman ar- Rahim – im Namen Gottes, des Barmherzigen“, begrüßt er Besucher. Doktor Mamduh ist Leiter der Moschee-eigenen Dialysestation. Er habe diese Arbeit gewählt, „weil es unsere Pflicht als Muslime ist, unseren Brüdern und besonders den Armen zu helfen“, erläutert der Arzt die Gründe für seine ungewöhnliche Wahl des Arbeitsplatzes. Immerhin stehen in der Moschee sechs Dialysegeräte, mehr als in so manchem Krankenhaus.
Eine Blutwäsche in der Moschee kostet die Patienten nur die Hälfte dessen, was sie in einem anderen Krankenhaus bezahlen müßten. Patienten wie die zwölfjährige Suad, deren Vater nicht genug verdient, um die lebenserhaltende Blutreinigung zu bezahlen, werden umsonst behandelt.
Den Kauf der Dialysegeräte nennt Hagg Hassan „das Wunder der Moschee“. Trotz zahlreicher Spenden hätten zur Ausstattung der Station noch rund 20.000 Mark gefehlt. Hagg Hassan ging daraufhin zu „einem Freund, den Gott mit Reichtum gesegnet hat“, und erzählte ihm von den Schwierigkeiten. „Heißt das, ich soll das Geld aufbringen?“ habe der reiche Bekannte skeptisch gefragt. „Ich schwieg eine Weile und erklärte ihm dann, daß er mit seinem Geld das Leben von mehreren Muslimen retten würde“, beschreibt Hagg Hassan seine Verhandlungsstrategie. „Schließlich belohnt Gott jede Wohltat mit einem Vielfachen.“ Als er das Haus wenige Minuten später verließ, hätte Hagg Hassan am liebsten angefangen, auf der Straße zu tanzen. Der Bekannte hatte ihm die benötigte Summe, ohne eine Wort zu sagen, in die Hand gedrückt.
Fünf Mark pro Monat für einen Kindergartenplatz
An der rechten Außenwand der Moschee schließt sich ein schmales vierstöckiges Gebäude an, das Hagg Hassan als „unser Kindergarten“ vorstellt. Im Büro des Hauses residiert die Leiterin, Sitt Inad. Die humorvolle und selbstbewußte Mittvierzigerin trägt einen bodenlangen Rock und ein kunstvoll um den Kopf gewickeltes Kopftuch. Derzeit besuchen rund 500 Kinder den Hort. „Wir nehmen nur Kinder berufstätiger Mütter auf“, erläutert Sitt Inad. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, die nach islamischen Grundsätzen arbeitenden Frauen zu unterstützen.“ Die monatlichen Gebühren betragen pro Kind etwa fünf Mark. Jeder Raum des Kindergartens ist nach einer der heiligen islamischen Städte benannt: Mekka, Medina, Jerusalem. In jedem von ihnen sitzen etwa dreißig Kinder. An den Wänden hängen bunte Tierbilder, Plakate mit Hinweisen über Hygiene und Gesundheit sowie Sprüche des Propheten Muhammad wie: „Lehrt Eure Kinder Schwimmen, Reiten und Sport zu treiben“. Im dem Raum Mekka sitzen die Kinder vor einem Fernseher mit angeschlossenem Videorecorder und schauen „Tom und Jerry“.
„Warum betet ihr nicht?“ fragen Kinder ihre Eltern
Ebenso wie die Grundlagen des Islam wird den Kindern hier Basiswissen in Sachen Hygiene beigebracht: Vor dem Essen sind die Hände zu waschen und danach die Zähne zu putzen. „Es kommt immer wieder vor, daß die Kinder versuchen, das hier Gelernte auch ihren Eltern beizubringen“, erklärt Sitt Inad nicht ohne Stolz. So sähen sich verblüffte Erziehungsberechtigte mit Fragen konfrontiert wie: „Warum betet ihr nicht? Das ist gegen die Gebote des Islam.“
Hagg Hassan weist noch auf eine weitere Institution der Moschee hin: das „Zakat-Komitee“. Der „Zakat“, die Armensteuer, bildet eine der fünf sogenannten Säulen des Islam. Erst wenn der Muslim auf seine Gewinne „Zakat“ entrichtet, werden seine Geschäfte Gott gefällig, lehrt der Koran. „Das Komitee sammelt die Armensteuer ein, mit der wir regelmäßig dreihundert Familien in unserem Viertel unterstützen“, erzählt Hagg Hassan. „Manche Familien bekommen Unterstützungen im Wert eines halben Monatslohns eines Arbeiters.“
Die Moschee betreibt zudem als Genossenschaftsprojekt eine kleine Nähfabrik. „25 junge Frauen aus armen Vierteln“, arbeiten dort, erläutert Hagg Hassan. 25 Familien würden so von der Arbeit in dieser Fabrik ernährt. Die erstellten Kleider würden „weit unter den normalen Ladenpreisen“ verkauft und mit dem Profit andere soziale Projekte finanziert. Zu den weiteren Aktivitäten, die in der Moschee organisiert werden, gehören kostenloser Nachhilfeunterricht für Schüler aus den umliegenden Armenvierteln, Englisch- und Schreibmaschinenkurse.
Stolz zeigt Hagg Hassan eine mit bunten Blumen bedruckte Einladungskarte. „Hassan und Fatimeh laden zu ihrer Hochzeitsfeier in die Moschee von Al-Manial ein“, steht darauf geschrieben. Üblicherweise wird in islamischen Ländern der Ehevertrag im Hause des Bräutigams geschlossen. Zu den Feierlichkeiten müssen die Gastgeber mindestens eine Musikgruppe einladen. Zusammen mit der Ausstattung der Braut kostet eine solche Hochzeit den Bräutigam ein Vermögen. Aufgrund der wirtschaftlichen Krise wird in Ägypten das Heiratsalter immer höher, und viele junge Leute haben jede Hoffnung aufgegeben, jemals eine Familie zu gründen. Die islamischen Gruppen werben dafür, auch bei der Hochzeitstradition wieder zu islamischer Bescheidenheit und in die Moschee zurückzukehren.
Bei den Feiern in seiner Moschee gehe es gesittet zu, betont Hagg Hassan. „Männer und Frauen sind getrennt.“ Die Gäste dürften Musikinstrumente mitbringen: „am besten Trommeln und Tamburine“, denn dies seien „die Lieblingsinstrumente des Propheten Muhammad“ gewesen. Die Frauen dürften singen, jedoch „anständige Lieder über die Liebe zu Gott und dem Propheten“. Aber „bitte leise, so daß die Männer kaum ihre Stimmen vernehmen können“!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen