: Brot für den Magen und die Seele
■ In sieben Nachtcafés, die jeweils an einem Tag der Woche geöffnet sind, können Obdachlose jetzt selbst entscheiden, ob sie schlafen oder durchmachen wollen
Auch obdachlose Menschen leiden unter Schlafstörungen. Es ist nicht nur allein die Kälte, auch möglicher Diebstahl, Unruhe in Pensionen, den Bahnhof „säubernde“ Polizisten, Mangel an Häuslichkeit überhaupt, die das Abschalten behindern. Andere läßt die innere Ruhelosigkeit nicht schlafen und mancher zweifelt am Sinn des eigenen Daseins.
Die Nachtcafés sind für diese Schlaflosen eine Form der Notunterkunft, die Obdachlose nicht nur verwahrt, sondern ihren Bedürfnissen Spielräume öffnet. In öffentliche Pensionen wird man eingewiesen, ins Nachtcafé kommt jeder von selbst in freier Wahl. In Pensionen müssen Berber zu festgelegten Zeiten eingetroffen sein und schlafen. Im Nachtcafé kann er schlafen oder eben auch wachbleiben. Hier kann man reden, dabei Kaffee trinken oder im Nebenraum schlafen. Jeder kommt unangemeldet, erfährt Freundlichkeit statt Bürokratie und erwärmt sich auch am Improvisationstalent der Bediener. Das jedenfalls ist das Konzept im Nachtcafé der Ölberg- Gemeinde in der Lausitzer Straße in Kreuzberg. 25 Schlafplätze in einem separaten Raum auf Isomatten und bald auch mit Bettwäsche und Handtüchern ohne Entgelt. Auch Kaffee, Tee und ein bescheidener Imbiß sind kostenlos zu haben. „Nur duschen kostet eine Mark für den, der hat“, erklärt Andreas, freischaffender Maler mit Pädagogikabschluß.
Wieder gehen Kirchengemeinden und -gemeinschaften neue Wege. „Seit 1992 werden es erschreckend schnell immer mehr Menschen, die Mahlzeit und Unterkunft suchen. Vor allem ostdeutsche Bürger, zunehmend aber auch Menschen aus Polen und Rußland. Am Andrang in der Wärmestube, die seit vier Jahren arbeitet, wurde dies deutlich. Wir wollten mehr tun, und so ergriff unser Gemeindepfarrer die Initiative“, sagt Andreas. Bisher finanziert die Gemeinde. Seit kurzem gibt es auch eine Sachmittelfinanzierung aus dem Senatsfonds „Kältehilfe“.
Diese Finanzierung reicht nicht aus. Denn die Nachtcafés werden auch im Sommer gebraucht. Insbesondere für Berber bieten die Nachtcafés eine Notversorgung und die Chance zu sozialen Kontakten. Es bilden sich Gruppen und es bleibt mehr Zeit zur Beratung oder einfach zum Zuhören.
Zu jeder Nachtstunde werden Gäste aufgenommen. Es gibt Brot für den Magen und für die Seele, Freizügigkeit vor allem und Gespräch, ein Stück Obdachlosenkultur. Nicht nur werden die Unbehausten immer mehr, immer mehr verbreitert sich auch ihre regionale und soziale Herkunft. Aus allen Schichten fallen sie in die Armut, und doch bleiben sie in ihrer Bedürftigkeit verschieden. Die Frau am runden Tisch nebenan schreibt Gedichte, am großen Tisch daneben zeichnet Elisabeth das Porträt eines Bekannten. Andreas gibt ihr kostenlosen Unterricht in Malerei. Den größten Tisch im Raum, die Tischtennisplatte, nutzt niemand. Wer den ganzen Tag auf der Straße war, verzichtet auf solchen Ausgleichssport. Ein Schachbrett nützt wohl eher, eine Illustrierte oder Literatur zur Selbsthilfe. „Auch Wörterbücher gehören hierher“, meint Manfred und erzählt von seinem nächtlichen Bemühen, einem polnischen Berber Öffnungszeiten und Gepflogenheiten verschiedener Notunterkünfte mitzuteilen.
Sieben Nachtcafés existieren zur Zeit in der Stadt. Ihre Öffnungszeiten verteilen sich auf die Wochentage. Sie sind ein Schritt zur Wahrung menschlicher Würde, zu menschlichem Miteinander. Auch für Hausbewohner, die an Schlaflosigkeit leiden. Sonja Kemnitz
Adressen:
Ölberggemeinde, Lausitzer Straße 30, Kreuzberg, 612 74 28, So 20.30 bis Mo 8 Uhr
„Arche“ – Bekenntnisgemeinde, Plesser Straße 3, Treptow, 272 71 04, Mo 21 bis Di 8 Uhr und Fr 21 bis Sa 8 Uhr
Taborgemeinde, Taborstraße 17, Kreuzberg, 612 31 29, Di 21.30 bis Mi 8 Uhr
Heilandgemeinde, Tusneldaallee, Moabit (U-Bahn Turmstraße), 391 66 13, Mi 21 bis Do 8 Uhr
„Die Wolke“, Falckensteinstraße 41, Kreuzberg, 611 35 82, Do 21.30 bis Fr 7.30 Uhr
„Heilige Familie“, Wichertstraße 23, Prenzlauer Berg, 448 24 77, Fr 18.30 bis Sa 8 Uhr
Philipp Melanchthon KG (Kirche), Kranoldstraße 16, Neukölln, 625 30 02, Fr 21.30 bis Sa 8 Uhr und Sa 21.30 bis So 8 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen