Jenseits des Totgesagten

■ Gespräch mit Kerstin Hensel über ihre Gesprächsreihe zur jungen deutschen Literatur im Brecht-Zentrum

taz: Seit Dienstag treten im Brecht-Haus dreimal wöchentlich je zwei junge deutsche AutorInnen auf. Du hast diese Serie, die vier Wochen lang läuft, konzipiert und organisiert – warum?

Kerstin Hensel: Auf die Idee bin ich durch westdeutsche FreundInnen gekommen, die ich nach der Maueröffnung kennengelernt habe. Wir haben festgestellt, daß es zwischen Ost- und Westdeutschen doch viel mehr Gemeinsamkeiten in bezug auf persönliche Entwicklungen und Erfahrungen gibt, als wir vorher dachten. Und das heißt, es müßte viel mehr Berührungspunkte und Verständigungsmöglichkeiten geben als allgemein behauptet wird. Außerhalb von Freundschaften findet aber fast gar keine Verständigung über solche Fragen statt und unter Schriftstellern, soweit ich weiß, bisher überhaupt nicht. Daher habe ich diese Reihe entwickelt, in der zwischen 1950 und 1970 geborene Ost- und West-Autoren zusammentreffen.

Karl Mickel hat im vorigen Jahr in der „LiteraturWerkstatt“ eine Gesprächsreihe unter dem Titel „Das Gedicht im zwanzigsten Jahrhundert“ veranstaltet. Da ging es allerdings um die ältere Generation.

Mickels Abende waren ein weiterer Anstoß. Meiner Meinung nach müssen aber nun endlich die Jüngeren zu Wort kommen und auch nicht nur die Lyriker. Ich will dabei herausfinden, woher diese Autoren, literarisch gesehen, kommen, was Literatur für sie in den verschiedenen Etappen ihres Lebens bedeutet hat. Ich möchte wissen, wo im Selbstverständnis dieser Autorengeneration Ähnlichkeiten und grundsätzliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bestehen. Ich selbst habe da so meine Thesen, aber eben keine Beweise.

Wie wird das Unternehmen im einzelnen vonstatten gehen?

Zusammen mit Ludger Bült vom Brecht-Zentrum habe ich pro Abend Ost- und West-Schriftsteller „gepaart“, deren Schreibweise möglichst unterschiedlich ist. Sie werden zuerst kürzere eigene Texte lesen, sollen dann aber miteinander ins Gespräch kommen, das ich moderiere. Ich werde ganz gezielt nach Kindheitserfahrungen fragen, nach literarischen Erlebnissen und Orientierungen und natürlich auch nach dem gegenwärtigen Zustand der Literatur, nach Feuilleton und Kritik.

Für wen ist denn deiner Meinung nach die Literatur jüngerer AutorInnen überhaupt noch von Interesse?

Das weiß ich nicht. Mir kommt es erst einmal auf die Gespräche selbst an. Wenn die gelingen, wollen wir daraus auch eine Buchpublikation machen, eine Art Bestandsaufnahme zur gegenwärtigen Situation der deutschen Literatur. Es ist ja höchste Zeit, daß die Autoren sich selbst dazu äußern.

Du denkst an die sogenannten Feuilletondebatten der letzten Jahre?

Es geht mir um eine Sammlung von persönlichen Standpunkten, zum Beispiel zu den bekannten Totsagungen seitens des Feuilletons: die Literatur im allgemeinen ist tot, die DDR als Staat ist tot und verdientermaßen tot ist natürlich die DDR-Literatur. Und weiter: den neuen deutschen Roman gibt es nicht, auch das Gedicht nicht – was in Deutschland heute geschrieben wird, scheint einfach nicht zu existieren. Das würde ich gern widerlegen. Ich bin mir da allerdings selbst nicht ganz sicher, denn ich finde auch, daß in der gegenwärtigen Literatur nicht alles zum besten bestellt ist. In dieser Hinsicht ist es also auch ein Unternehmen zur Befriedigung meiner persönlichen Neugier.

Schaltest du dich in die Gespräche auch als Autorin, als Kollegin mit eigenen Schreibinteressen und Standpunkten ein?

Mein eigenes Verhältnis zu den Texten der einzelnen Autoren wird überhaupt keine Rolle spielen. Es geht mir um die Fragen, die Eingeladenen sollen dazu zu Wort kommen. Ich bin nur die Vermittlerin.

SchriftstellerInnen aus Ost- und Westdeutschland sollen einander auf diese Weise zunächst mal kennenlernen...

Ja, vor allem aber sollen sie einander überhaupt einmal zuhören! Das ist bei uns ja keine sehr entwickelte Kultur. Wenn man das schaffen würde, wäre das allein schon ein großer Schritt.

Zielpunkt des Ganzen ist die gesamtdeutsche Literatur?

Klar. Wir sind ja die letzte Generation, die noch im getrennten Deutschland aufgewachsen ist und die auch, glaube ich, niemals „gesamtdeutsch“ werden wird. Die nach uns kommen, werden viel „einiger“ sein, weil sie die Verhältnisse für normal halten. Gerade deshalb finde ich es wichtig, daß Autoren meiner Generation sich jetzt darüber verständigen, was es für jeden einzelnen heißt, ein „deutscher Schriftsteller“ zu sein. Das Gespräch führte Frauke

Meyer-Gosau