Schriften zu Zeitschriften
: Wilde Filme im Hirnkasten

■ Der „Freibeuter“ vermißt die Erotik im Zeitalter der Pornographie

Man vermißt etwas erst, wenn man es verloren hat. Dann werden Nachrufe geschrieben: auf das Verschwinden der Natur oder der Kindheit, auf das Ende der Religion, der Utopie oder des Sozialismus. Nostalgie ist angesagt. Es sieht so aus, als habe diese wehmütige Stimmung inzwischen auch ein Thema erfaßt, das man einmal als schönste Neben- (oder Haupt-)Sache der Welt bezeichnet hat: „Erotik im Zeitalter der Pornographie“ – gibt es das noch? Das fragt sich jedenfalls der Freibeuter. Die sexuelle Revolution hat offenbar die euphorischen Erwartungen nicht erfüllt, die sie einst beflügelt hatten. Katzenjammer: Hardcore-Videos für jedermann – war's das?

Die Klage ist nicht ganz neu. Michel Foucault hatte schon Anfang der achtziger Jahre die Parole „Nein zu König Sex“ ausgegeben; Erik Grawert-May erhoffte sich von seinem „Lob der Prüderie“ die „Erlösung von der Sexualität“. Die Altmeister der Kulturkritik wußten eh schon bescheid: „Es gibt Lust nur als verbotene“, schrieb Adorno vor vierzig Jahren in „Minima moralia“; und Günther Anders äußerte in seinen Notizen über „Lieben gestern“ den Verdacht, das ganze lockere Gerede über Sexualität sei nur eine neue Form des Puritanismus. Womit eine Kultur nicht fertig wird, das muß sie eben zu Tode reden. Deshalb hielten es die Klassiker des Obszönen mit dem Katholizismus: von de Sade über Baudelaire und Rimbaud bis hin zu Bataille, Genet und Pasolini wußten sie, daß die blasphemischen und obszönen Rituale der Überschreitung der Konventionen und Verbote bedürfen, um wirksam zu werden.

Also die alten Tabus wieder herstellen? Dem fast-fulfilment neue Hindernisse in den Weg legen, damit anstelle des sexuellen Fast-food-Genusses wieder so etwas wie erotische Spannung einkehrt?

Nein, so geht es nicht, gibt Barbara Sichtermann in ihrem Editorial zu bedenken, das wäre Künstelei. Aber – so meint sie – es bedarf der äußeren Hemmnisse gar nicht; man müsse nur auf die innere Spannung setzen, die im Begehren selbst steckt. Und schon ist sie wieder da, die alte kulturkritische Unterscheidung zwischen den „wahren“, „authentischen“ Wünschen und ihrer kulturellen, „entfremdenden“ Überformung. Es ist der alte Streit der Kulturanthropologen, ob beispielsweise Scham und Intimität zur Grundausstattung der Gattung Homo sapiens gehören (wie das etwa Hans Peter Duerr behauptet) oder ob sie erst im Lauf der geschichtlichen Entwicklung, durch Verinnerlichung von Verboten, erworben wurden (wie von Norbert Elias in seiner Zivilisationstheorie dargelegt).

Überhaupt: Liebe als Passion, „erotische Anziehung als Gefahr“ (Sichtermann) – sind das nicht Konstruktionen, die erst mit dem bürgerlichen Charaktertypus möglich wurden? Erst dort, wo Ich-Autonomie und Selbstkontrolle zum Bildungsideal stilisiert worden sind, wird Eros, „der schwarze Gott“ (Lacan), zum süßen Schrecken: Er verkörpert die Drohung und Verheißung des Ich-Verlusts. Nein, hier hilft alles Sträuben nichts: Wer, wie Sichtermann, postuliert, Erotik müsse wieder etwas „potentiell Gefährliches“ werden, ist ein hoffnungsloser Romantiker. (Was man allerdings nicht unbedingt als Vorwurf verstehen muß.)

Was hat der Freibeuter sonst noch zum Thema zu bieten? Bruno Preisendörfer findet, daß die „schlimmen“ Wörter durch inflationären Gebrauch ihre provokative Schärfe verloren haben. „Bumsen“ – das war schon für Hubert Fichte nur noch ein „Sargdeckelwort“. Joachim Scholl wendet sich gegen die simple Gegenüberstellung von „guter“ Erotik und „schlechter“ Pornographie. Das Ritual von Kerzenlicht, Champagner und seidener Bettwäsche sei nicht weniger klischeegesättigt als die akrobatischen Turnübungen der Pornos. Worauf es wirklich ankommt, meint Scholl, ist der Mut zum privaten Traumkino: „In unserem Hirnkasten laufen noch ganz andere Filme, die kein Staatsanwalt je auf die Leinwand ließe.“

Ob Pornographiekonsum ausschließlich Männersache sei, fragt Hannelore Schlaffer. Bleibt den Frauen nur der verschämt-voyeuristische Blick aufs eigene Geschlecht: auf die Models in den Modezeitschriften? Offenbar hatte Frau Schlaffer noch nie ein Exemplar des Magazins Playgirl in der Hand; aber vielleicht setzen sich die knackigen Boys in diesem Magazin ja eher für den (schwulen) männlichen Leser in Pose.

Katharina Rutschkys Beitrag schließlich gehört eigentlich nur am Rande hierher. Sie polemisiert gegen die Phalanx von Kinderschützern und Feministinnen, die beim Thema Erotik immer nur an sexuellen Mißbrauch denken können. Sind wirklich deutsche Polizisten an vorderster Front gegen Kinderprostitution in Ländern der Dritten Welt im Einsatz? Die Kampagne dagegen wurde von internationalen Hilfsorganisationen wie Terre des Hommes initiiert. An Rutschkys Verdacht, manche Spielarten der Frauenbewegung kultivierten die Sexualfeindschaft der höheren Tochter in neuem Gewand, könnte allerdings etwas sein.

War's das? Wissen wir nun, was Erotik ist? Der Rezensent denkt einen Augenblick nach. Dann geht er zum Bücherregal, zieht einen Stapel älterer Zeitschriften hervor. Da war doch was – ja, hier: Lettre international, Heft 17, Juni 1992, Schwerpunktthema „Sex/Eros“. Und während er genießerisch die Seiten umwendet, kommt ihm der Freibeuter immer harmloser vor: kein feuriger Pirat aus einer Belcanto-Oper, sondern eher ein blasser Kavalier mit Strohhut, Nelke im Knopfloch und blankgeputzten Lackschuhen. Aber immerhin! Rolf Spinnler

„Freibeuter“, Heft 58. Verlag Klaus Wagenbach, 160 Seiten, 15 DM.