„Heidi“ auf der Gold-Alm

Vreni Schneider machte mit ihrem Olympiasieg im Slalom aus dem Schweizer „Lillejammer“ eine Almwiese mit Kuhglockengeläut  ■ Aus Hafjell Cornelia Heim

Als Markus Wasmeier seinen olympischen Einstand mit einem 36. Platz in der Abfahrt gab, meinte Peter Hinterseer: „Wenn jemand ein Patent hätte, 'Mache aus gutem Fahrer Olympiasieger‘, ich würde es sofort kaufen. Für viel Geld.“ Wir wissen nicht, ob der Sportwart des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) sein Vermögen losgeworden ist, wir wissen nur, aus Wasi wurde ein Goldbua.

Schweizer Boulevardblätter haben die Olympiastadt bereits in den ersten Tagen umgetauft – in „Lillejammer“. Gar fürchterlich hatten sie daran zu knabbern, daß die Ski-Weltmacht von einst zur Provinz degradiert wurde. Selbst Bernhard Russi, Pistenbauer und einer aus der vom Aussterben bedrohten Spezies rot-weißer Alpen- Goldgräber, machte sich so seine „Gedanken“. Nur sei es zu früh, sagte der 46jährige, den man dereinst den „Gentleman auf Ski“ nannte, sie der Öffentlichkeit kundzutun. Andere hielten mit ihrer Kritik weniger hinterm Monte Rosa. Erwin Cavegn, Abfahrtstrainer der Frauen: „Wir sind zur kleinen Ski-Nation geschrumpft.“

Klein, allerdings „mit einer großen Athletin“. Auf deren Schultern fortan die geballte Hoffnung aller Schweizer nebst glücklichen Schafen und Kühen ruhten. Cheftrainer Angelo Maina: „'s Vrenili kommt doch erst noch.“ 's Vrenili – Vreni Schneider, die „Heidi“ (Sport Zürich) der Schweizer Berge, kam. Bronze im Riesenslalom, Silber in der Kombination und am Samstag: Gold im Slalom – „die Apotheose einer großen Sportkarriere“, schwelgte Slalomtrainer Paul-André Dubosson in jenen Hymnen, welche die Eidgenossen anzustimmen pflegen, sofern auch nur in einem entlegenen Nest ein Schweizer Meister im Steinweitwurf geworden ist. Zieht man die rosa-nationale Brille ab, bleibt indes – immer noch eine Weltklasseathletin vom Format einer Marie-Thérèse Nadig oder Maria Walliser.

Bei Vreni Schneider ist es nie einem Funktionär in den Sinn gekommen, nach einem Patent zum Siegen zu flehen. Wo sie auch hinkam, sah und siegte die mittlerweile 29jährige Allrounderin. Ganz einfach. Seit zehn Jahren. Beständig. Ihre Siege sehen nie nach Knochenarbeit aus. Scheinbar mühelos läßt sie ihre Ski durch den Stangensalat gleiten, fast schwerelos ihre 68 Kilo hinunterschlängeln. Scheint den Schnee kaum zu berühren. „'s Vrenili“, die, wenn sie eine Konkurrentin wieder einmal auf einen hinteren Platz verdrängte, sich mitleidsvoll höflich für diese Unflätigkeit zu entschuldigen pflegte, fährt alles andere als aggressiv. Dafür effektiv: rhythmisch-harmonisch, ihrem Wesen entsprechend. „Es gibt niemanden, der ihr böse sein kann“, sagen die Schweizer Trainer. Wie soll man auch Aggressionen aufbauen gegen eine, die am liebsten zu Hause sitzt, strickt und sich die „Oberkrainer Ländler“ reinzieht?

Am Samstag läuft allerdings zunächst alles schief. „Wir haben ihren ganzen Fetisch vergessen“, erzählt Trainer Dubosson, „den Schal, der nie fehlen darf, die Maskottchen.“ Die große Vreni wird nervös. So sehr hat sie sich diesen Olympiasieg gewünscht. Auf daß sie sich nächste Saison beruhigt zurückziehen kann. 1988 in Calgary glänzte sie mit Gold im Riesenslalom und Slalom. In Albertville ging sie leer aus. In Hafjell wählt sie die Startnummer eins. Liegt nach dem ersten Lauf 68 Hundertsel zurück, vier Läuferinnen trennen sie von ihrem Traum.

Ihr zweiter Lauf ist einer, wie ihn in dieser Beständigkeit nur noch außerirdische Ski-Wesen wie Ingemar Stenmark hinunter zirkeln konnten – unnachahmlich. Die Bretter scheinen sich, wie von unsichtbarer Hand bewegt, hinunter zu aalen. Der Körper ist regungslos. Paul-André Dubosson: „Sie fährt so perfekt, daß sie andere dazu zwingt, alles zu geben.“ Was denen oft schief läuft. Wie gestern. Dann steht sie im Ziel und wartet. Und lacht. Wartet – auf die Schweizerin Gabriela Zingre – langsamer. Die Österreicherin Elfriede Eder – 34 Hundertstel schlechter. Strahlt. Pernilla Wiberg, die Olympiasiegerin im Riesenslalom – abgeschlagen. Lacht. Katja Koren aus Slowenien, die mit Startnummer 33 im ersten Durchgang an die Spitze gerast ist – 60 Hundertstel zurück. Vreni Schneider strahlt, die Mundwinkel breit bis zum Backenknochen. Sie gewinnt. Wie 27 Mal zuvor ein Slalom-, und 21 Mal ein Riesenslalom-Weltcuprennen.

„Das Schönste im Leben ist, daß es einem gut geht“, sagt sie. „Hopp Schwiiz, allez les Suisses.“ Die Kuhglocken läuten in Ekstase. „Heidi“ hat wieder einmal ihre Alm gefunden. Mit ihr lachen die beiden Geschlagenen: Elfriede Eder, die Zweitplazierte. „Für die Österreicher freut's mich besonders.“ Die Goldmedaillengewinnerin hat ein großes Herz. „Der Tod von Ulrike Maier geht ihr an die Nieren“ (Dubosson). Und Katja Koren (18), die Dritte. Deren „unerwartete Medaille“ der Damen-Cheftrainer der Slowenen, Jaroslav Kalan, auf die Erfolgsformel bringt: „Die richtigen Leute zur rechten Zeit am rechten Ort.“

Peter Hinterseer behauptet: „Skifahren ist ein Sport für Psychopathen.“ Ängste würden sich aufs Nervengeflecht in den Fußsohlen übertragen: „Damit wird der Kontakt zum Ski empfindlich gestört.“ Folgerichtig wird nur ein problemloser Mensch Olympiasieger.