„Perversion“ eines Gewerkschafters

Der Berliner HBV-Vorsitzende Manfred Müller tritt auf der offenen Liste der PDS an / Frontstadtpolitiker schäumen, und 100 Mitglieder treten aus der Gewerkschaft aus  ■ Aus Berlin S. Weiland

Der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus-Rüdiger Landowsky, nebenbei auch in den Etagen diverser Bankvorstände und Aufsichtsräte zu Hause, entdeckte in diesen Wochen sein Herz für die Gewerkschaften. Es grenze schon an „Perversion“, so der Rechtsanwalt, wenn sich ein hoher Funktionär des DGB in den Dienst jener Partei stelle, die „vierzig Jahre hindurch jede gewerkschaftliche Freiheit“ unterdrückt habe.

Was war geschehen? Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Manfred Müller, hatte Anfang Februar zusammen mit dem Schriftsteller Stefan Heym seine Bundestagskandidatur auf der offenen Liste der PDS angekündigt. Der Wahlkampf in der Hauptstadt war damit frühzeitig eröffnet. Christdemokrat Landowsky stand mit seiner kühl berechnenden Aufregung nicht alleine. Auch zahlreiche Sozialdemokraten äußerten in einem offenen Brief an Müller ihr Unverständnis: Die SED-Nachfolger seien „nicht die Partei der Gewerkschaften“.

Der 50jährige, seit zehn Jahren örtlicher HBV-Chef, hat mit seinem Schritt die Welt inner- und außerhalb der Gewerkschaften durcheinandergebracht. Bislang galt: Wer als Funktionär für ein Mandat im Bundestag kandidiert, hat es entweder für SPD oder CDU zu tun.

Müllers Hinwendung zu Gregor Gysis bunter Truppe kam nicht völlig überraschend. Der gelernte EDV-Kaufmann, der vor 21 Jahren über die Betriebsratstätigkeit in einem Handelshaus zur hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit kam, gilt seit längerem als renitenter Funktionär. Zum ersten Mal wurde Müllers Name im Dezember 1990 über den internen Gewerkschaftskreis hinaus in der Öffentlichkeit bekannt. Mehrheitlich von den Einzelgewerkschaften als Kandidat für den Vorsitz des DGB-Bezirks Berlin und Brandenburg nominiert, wurde er wenige Tage vor der Wahl zurückgepfiffen. Dem DGB-Bundesvorstand mißfiel offenbar die Vorstellung, daß ein Parteiloser, dem zudem noch rot-grüne Sympathien vorgehalten wurden, den Dachverband unter dem damals gerade gebildeten CDU/SPD-Senat anführen sollte.

Trotz seiner Popularität innerhalb der eigenen Gewerkschaft sorgte seine PDS-Kandidatur für Verstimmung. Nur ein kleiner Kreis im Vorstand der HBV war vorab in seine Überlegungen miteinbezogen worden. Den meisten Funktionären erging es nicht anders als der Basis: Von Müllers Kandidatur erfuhren sie erst aus den Medien. „Heftig und kontrovers“ sei auf mehreren Vorstandssitzungen diskutiert worden, wie ein führender HBV-Mann versichert. Westliche Funktionäre sorgten sich um den Ruf der HBV. Müllers Kandidatur könne, so ihre Befürchtung, den laufenden Tarifverhandlungen der Gewerkschaft schweren Schaden zufügen. Betriebsräte aus dem Hertie-Kaufhaus machten ihm unmißverständlich klar: „Wenn du auf der Liste bleibst, kannst du nicht länger unser Vorsitzender sein.“ Ein Rundbrief an die Funktionäre, in dem Müller seine Entscheidung erläuterte, schlachtete die CDU genüßlich aus: „PDS-Wahlwerbung aus der Gewerkschaftsportokasse“, lautete der Vorwurf des Berliner CDU-Generalsekretärs Dieter Ernst.

Vergangene Woche zog Müller die Konsequenzen aus der öffentlichen und internen Diskussion um seine Kandidatur. Zwar waren innerhalb von zwei Wochen von 34.000 Berliner HBV-Mitgliedern nur rund 100 ausgetreten. Doch das Signal wirkte zusammen mit dem Druck, der von außen auf Müller ausgeübt wurde. Schon vor Wochen hatte die Düsseldorfer HBV-Zentrale ihn ermahnt, sein Amt nicht mit einer Kandidatur für eine politische Partei zu vermischen. Das sei, so der Hauptvorstand, „ein ungeschriebenes Gesetz“ der HBV.

Müller selbst hatte diese Variante bereits für den Fall angekündigt, daß seine Funktion als HBV- Vorsitzender und seine Kandidatur für die PDS aus inhaltlichen und zeitlichen Gründen nicht mehr vereinbar sein sollten. Noch bevor er überhaupt seinen ersten Auftritt vor den Genossen der PDS hatte, griff er letzte Woche auf diese Kompromißformel zurück: Seinen Posten als HBV-Vorsitzender, so verkündete er, werde er nach seiner Nominierung für ein Ostberliner Direktmandat der PDS ab März bis zur Bundestagswahl am 16. Oktober „ruhen lassen“.

Heym offiziell zum PDS-Kandidaten gewählt

Berlin (AP) – Der Schriftsteller Stefan Heym ist am Samstag offiziell zum parteilosen Kandidaten für die PDS im Wahlkreis Berlin- Mitte und Prenzlauer Berg für die Bundestagswahl aufgestellt worden. Bei einer Wählerkonferenz in Berlin erhielt Heym 159 der 166 abgegebenen Stimmen. Die CDU bestimmte die ebenfalls parteilose ostdeutsche Schriftstellerin Helga Schubert zu ihrer Kandidatin in diesem Stimmbezirk. Für die SPD geht in Berlin-Mitte Wolfgang Thierse ins Rennen.