Der Zirkus zieht weiter

Eine Olympia-Bilanz: Von wiedererwachten Geistern und nicht zu stoppenden Unwesen  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Das war's: Acht Tonnen Bananen; Würstchen von 1.800 km Gesamtlänge; zwölf Millionen Telefonanrufe; 20.000 Laib Brot täglich; 260 Knochenbrüche. 2.000 Athletinnen und Athleten aus 69 Ländern machten unter sich 61 Olympiasiegerinnen und -sieger aus.

„Wunderbar“ seien diese 17. Winterspiele gewesen, befand der IOC-Präsident. Und leider kann man Juan Antonio Samaranch in diesem einen Fall gar nicht widersprechen. Lillehammer, das waren 16 Tage Volksfest unter strahlend blauem Firmament. Der olympische Geist ließ sich weder durch verknöcherte Sportbürokraten noch durch gewinnsüchtige Manager verscheuchen. Lillehammer hatte etwas Ur-Religiöses, dank eines Wunders, mit dem niemand gerechnet hatte – der Wiedergeburt jenes Sportsgeistes, den man schon lange verschüttet zwischen den Deckeln alter Sportbücher glaubte, allenfalls lebendig geworden in nostalgischer Erinnerung stark ergrauter Zeitgenossen.

Aber auch die herzliche Heiterkeit, welche sportverbundene und naturliebende Fans in urtümlicher Kniebundhose und unvermeidlichem Rucksack nebst Fähnchen ausstrahlten, kann nicht vergessen machen, daß die Kommerzialisierung des Sportes immer munterer daherschreitet, gerade weil sich ein positives Sportbild noch einträglicher vermarkten läßt; „daß dies alles ein Zirkus ist“, wie Walther Tröger, IOC-Mitglied und „Teamchef“ der deutschen Olympia- Mannschaft, befand; daß sich Athleten, die um des bloßen Dabeiseins willen dabei sein wollen, sich immer schwerer tun, in ihrer Amateurhaftigkeit die Regeln des von Profi(t)tum bestimmten Sportes zu erfüllen.

Das war's: 1.800 Busse, die zusammen 7,5 Millionen Kilometer zurücklegten; 400 Tonnen Abfall; 200 Fernsehstunden bei ARD und ZDF; 750.000 Telefonanrufe pro Tag; 100 Prostituierte, die im Schnitt 23.000 Mark verdient haben sollen.

„Die norwegischen Zuschauer fingen erst an, ausländische Athleten anzufeuern, als sie wußten, daß diese Norwegern die Medaillen nicht streitig machen werden“, kritisiert Sozialwissenschaftler Roel Puijk die patriotische Färbung der Sporteuphorie seiner Landsleute. Was man sicherlich tun kann. Nur spätestens beim Betreten eines Fußballstadions oder einer Tennisarena begreift ein jeder, Spitzensport lebt auch von Identifikation und Feindbildern. Und die Heimmannschaft erhält allerorten die lauteste Anfeuerung.

Das war's: Auf einen Aktiven 0,95 Offizielle und 4,1 Medienvertreter; 2,4 Millionen Mark „Entsendungskosten“ (Tröger) für das deutsche Team; 17 Millionen Pin- Geschäfte; 100 Nationen am Bildschirm (in Albertville: 86).

Lillehammer war „die Geschichte von David und Goliath“, heißt es in einem Prospekt des Tourismusbüros. Die 23.000-Seelengemeinde und das megalomane Spektakel. David führte die „dritte Dimension“ (Gerhard Heiberg, Organisationschef) in den Wertekatalog neben Sport und Kultur ein. Was die Frage aufwirft, wie weit es um das grünende Grün der Spiele in Wahrheit bestellt ist. Mit Göttin Olympia ist es wie mit Fetisch Auto. Wer einen Katalysator fährt, ist noch lange kein Umweltschützer. Auch in Lillehammer wurden Bäume gefällt, Hänge planiert und Beton vergossen. Echte ökologische Spiele sind nur jene, welche in schon existierende Stätten zurückkehren, um auf den Raubbau an der Natur in Gänze zu verzichten. Die vernünftige Wiederkehr des Immergleichen allerdings widerstrebt dem obersten Olympier, der eingedenk des gewaltigen konjunkturellen Aspektes zu sagen pflegt: „Olympia gehört der ganzen Welt.“ Walther Tröger deutlicher: „Wir wollen mit der Vergabe der Spiele auch den Tourismus in unterentwickelten Regionen fördern.“ Wie ernst es den Herren der Ringe mit der dritten Dimension ist, belegte Herr Samaranch höchstpersönlich. Jener feierte bereits die Kahlschläger von Albertville als „Bewahrer der Bergwelt“. Nein, die olympische Bewegung als solche darf sich nicht als geläutert rühmen. Zwischen Lillehammer und Sydney liegen Atlanta und Nagano. Spätestens 1996 im Heim der süßen Brause wird sich Coca-Cola nicht mehr in kompostierbare Pappbecher quetschen lassen.

Das war's: 4,5 Millionen Liter Milch; 134,4 Tonnen Propan, welche 16 Tage lang die olympische Flamme am Leben erhalten haben; zwei Dopingfälle: der österreichische Bobfahrer Gerhard Rainer (Menthandienom) und der italienische Abfahrer Colturi (Nandolon), letzterer bereits bei der Qualifikation ertappt.

Die Zeit des Medaillenzählens sei vorbei, hat uns Peter Holz, der oberste Medaillenwart des deutschen Sports, vorab versichert. Und auch Walther Tröger hat von sich behauptet, er sei kein „Erbsenzähler“, lediglich ein „Kleingärtner“, wobei er letzteres nicht als Psychogramm, wie es der Spiegel entwarf, verstanden haben wollte. Sei's drum, ob sie Blech reden oder nicht zählen wollen, brauchen tun sie es allemal. Als Leistungsnachweis für künftige Sportförderung. Wir zählen ersatzhalber: 9 Gold, 7 Silber, 7 Bronze, macht unterm Strich drei weniger als vor zwei Jahren (10/10/6). Was uns die Arithmetik lehrt? Daß die meisten Medaillen in einst vorprogrammierbar scheinenden Disziplinen wie Eisschnellauf ausblieben. Daß Sport dann am schönsten ist, wenn die Rechnung „Favorit ist gleich Sieger“ nicht aufgeht, was der Bilanz zwei alpine Zufallsprodukte Marke Wasmeier bescherte.

Das war's: Yoon-Mi Kim (13), die jüngste Olympiasiegerin aller Zeiten – sie gewann in der 3.000- Meter-Short-Track-Staffel. Fünf Tonnen Senf und Ketchup; 1,22 Millionen verkaufte Eintrittskarten (82 Prozent).

Außer den Dählies, Koss', Weißflogs, Schneiders, di Centas gewannen vor allem das IOC (Umsatz von 1993 bis 1996: 2,5 Milliarden Mark), CBS (dank einer Seifenoper, die netterweise mit keiner amerikanischen Gewinnerin zu Ende ging) und der Tourismus in den Olympiaprovinzen Hedmark und Opland. 340 Millionen Mark sollten die Spiele den Veranstalter kosten, auf 1,7 Milliarden beläuft sich die Endabrechnung, das Defizit beträgt eine Milliarde Mark (inklusive der infrastrukturellen Investitionen).

Das war's: Deborah Compagnoni widmete die Piste, welche ihr Gold im Riesenslalom eintrug, der tödlich verunglückten Österreicherin Ulrike Maier. Johan Olav Koss spendete seine Gold-Prämien der Stiftung „Olympic Aid“.

Es bleiben: Noch 5.327 Tage, bis Lillehammer die 21. Winterspiele im Jahr 2010 ausrichten will. Es bleiben auch: Bosnische Sportler zwischen Schuldgefühl („weil wir nicht bei den anderen in Sarajevo sind“) und Hoffnungslosigkeit. Bobfahrer Igor Boras: „Was wird bloß nach der Schlußfeier, wenn es vorbei ist und keiner uns mehr haben will?“