: Spielbergs Oskar
In nur einem Jahr hat der Maestro sowohl die ausgestorbenen Dinosaurier reanimiert als auch die Vernichtung der europäischen Juden einem Happy-End zugeführt. Wo ist die Schmerzgrenze? Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ ■ Von Jim Hoberman
Von den Tiefen des Meeres bis in die dunklen Gefilde von Neverland; vom ländlichen Georgia zum besetzten Shanghai – Steven Spielberg umschließt die gesamte Schöpfung wie eine unendliche Alufolie. Sein Imperium beherbergt prähistorische Dinosaurier und extraterrestrische Aliens; seine heiligen Textquellen reichen von der Arche Noah bis „A Guy Named Joe“. Der amerikanische Präsident selbst gab den Startschuß zum Medienrummel um „Schindlers Liste“, und David Denby, Kritiker der New York Times, skandierte begeistert: „Fast scheint es, als habe Spielberg zum ersten Mal verstanden, warum Gott ihm solche außerordentlichen Fähigkeiten gab.“
Gibt es ein höheres Wesen? Vielleicht. „Es wird wohl nie wieder jemand Spielbergs Schaffenskraft besitzen“, schrieb Variety, „oder sie mit solcher Großmut einzusetzen wissen.“
Drei von Spielbergs Filmen waren zu ihrer Zeit absolute Box-office-Rekorde, es könnte gut sein, daß er der universellste Künstler des Planeten Erde ist.
Eignet sich zur Wiedergutmachung?
Welche Herausforderungen bleiben ihm? Die ewige Insider-Frage, welcher seiner Filme je den Academy Award bekommen wird, ist nur insofern interessant, als sie zu einer anderen Frage überleitet: Gibt es irgendein Thema, das sich nicht zur Wiedergutmachung eignet? Kann selbst der Holocaust spielbergisiert werden? Ist es möglich, einen Feel-good-Unterhaltungsfilm über die ultimative Feel- bad-Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu machen? Und wo liegt unsere Schmerzgrenze?
„Schindlers Liste“ beschreibt die Heldentaten des Oskar Schindler, eines deutschen Industriellen und NSDAP-Mitglieds, dem es gelungen war, tausend polnische Juden zu retten, indem er sie in den Emaille-Werken beschäftigte, die er während der deutschen Besetzung von ihren jüdischen Vorkriegsbesitzern konfisziert hatte.
Den vollständigsten Bericht über Schindlers Leben gibt der australische Erzähler Thomas Keneally. Sein 1982 erschienenes Buch, das weder Fiktion noch Geschichtsschreibung ist, schwankt zwischen Zurückhaltung und Sarkasmus. Aufgemotzt durch erfundene Dialoge und unwichtige Details (als wäre die bloße Biographie nicht genug), stellt Keneally Schindler als „gegeben“ dar und versucht nicht, seinen Charakter irgendwie zu erklären.
Extreme menschliche Verhaltensweisen waren die Norm im besetzten Polen; einem Juden zu helfen hieß den Tod herausfordern. Die drei Prozent, die den Krieg in Polen überlebten, hatten ein wahrhaft kosmisches und unerklärliches Glück. Daß Schindler ein Glücksspieler war, ist Teil seines Mythos. Der Krieg machte aus ihm, dem charmanten Schurken, einen Heiligen (nach dem Krieg fiel er wieder zurück).
Kosmisches und unerklärliches Glück
Die Geschichte ist unglaublich, selbst für Holocaust-Maßstäbe, und läuft – im Gegensatz zu dem „Tagebuch der Anne Frank“ – auf ein Happy-End hinaus. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum Universal die Filmrechte für ihren Wunderheiler Spielberg erworben hat. Gespielt vom aalglatt imposanten Liam Neeson, der mit einer verrauchten Nachtclub- Szenerie eingeführt wird, ist Spielbergs Schindler ein Bonvivant mit eigener Agenda, ein Opportunist, kein Ideologe. Er erwirbt die Fabrik und mietet jüdische Sklaven von der SS (darunter auch den früheren Fabrikbesitzer). Er will Geld verdienen und gut leben – er übernimmt eine jüdische Wohnung in demselben Moment, in dem die bisherigen Mieter ins Ghetto getrieben werden – aber er will seine Arbeiter sich nicht zu Tode schuften lassen. Dieser ursprüngliche aufgeklärte Eigennutz macht nach der Liquidation des Krakauer Ghettos einem weniger eigennützigen Heldentum Platz. Als er mit seiner Geliebten über die Hügel der Stadt reitet, sieht er fassungslos, wie die Juden am Ort zusammengeschlagen, erschossen, zusammengetrieben und in Konzentrationslager deportiert werden. Danach wird seine Fabrik ein Zufluchtsort.
Polen als Spezialeffekt
Gedreht am Ort in leuchtendem Schwarzweiß erinnert „Schindlers Liste“ an Andrzej Wajdas „Korczak“ (Portrait des polnischen Arztes, der mit seinen jüdischen Kinderpatienten in den Tod ging): Beide sind gleichermaßen „gelehrt“ und hektisch. Polen ist ein Spezialeffekt (dies war garantiert der teuerste Film, der dort je gedreht wurde). Es gibt dem Film seinen gewissen Chill. Irgend etwas von der grauen, klammen Landschaft ist in Spielbergs Knochen gekrochen; aber noch mehr von Hollywoods Sonnenschein ist darin geblieben. Der Film ist dann am besten, wenn er ein Durcheinander von Details präsentiert. Der Terror am Naziterror lag in seiner Willkür, seiner Unberechenbarkeit. In seinem Bemühen, das verständlich zu machen, fällt Spielberg zurück auf das, was er kann. Er versucht beiläufig zu sein, aber er kann nicht auf die Großaufnahme verzichten, die zeigt, wie das Blut im Schnee verläuft. Genauso wenig kann er auf die schönen Blicke zwischen den Ghettoärzten verzichten, die ihren Patienten Zyankali geben, als die SS schon die Treppen heraufstürmt; oder auf den netten kleinen Jungen, den er zum Erretter aufbaut; oder auf die ekelerregend überfrachtete Musik von Schlockmeister John Williams zu dem von Kindern gesungenen jiddischen Schlaflied „Oifn Pripitshik“, die während der Räumung des Ghettos ertönt. Im Gegensatz zu Schindler hat Spielberg seine Instinkte nicht im Griff.
Babyface- Caligula
Nach der Räumung des Ghettos wird Schindlers Firma ins Arbeitslager Plaszow zurückversetzt. Dieses Alptraumszenario wird vom bösen Zwilling des Helden geführt, dem sadistischen SS-Offizier Amon Goeth (Ralph Fiennes), einem Babyface-Caligula mit toten Augen, der Häftlinge nach Belieben abknallt, selbst wenn er nicht besoffen ist. Plaszow gibt Spielberg die Möglichkeit, eine Auschwitz- ähnliche Selektion zu zeigen, während der die Häftlinge nackt an den Ärzten vorbeilaufen, die über Leben und Tod entscheiden. Auch hier unterbricht eine Mammut- Horrorszene den Plot, obwohl man sich fragt, ob diese Zusammenbrüche der Erzählung nicht dazu dienen, das Publikum sehnsüchtig auf Schindlers nächsten Auftritt warten zu lassen.
Schon 1948 machte der polnische Spielfilm „Undzere Kinder“, besetzt mit wirklichen Überlebenden, die Frage der ethischen Repräsentation zum Thema, indem ein Stück, das im Warschauer Ghetto spielte, als sentimental kritisiert wird. Selbst jetzt, wo Auschwitz zerfällt (oder zu einem Filmgelände umgebaut wird), fragen sich Historiker und Wissenschaftler, ob es erhalten werden soll und warum. Wie über das Unsagbare sprechen, das Unzeigbare zeigen, wie die Realität der Massenvernichtung darstellen, ohne auf Horrorpornographie oder Sentimentalität Rekurs nehmen zu müssen.
Meisterwerke so verschiedener Art wie Tadeusz Borowskis „Die Damen und Herren werden zum Gas gebeten“, Art Spiegelmans „Maus“ und Claude Lanzmanns „Shoah“ haben Strategien entwickelt, den Holocaust an seinen Spuren und in seiner Abwesenheit zu zeigen, seine Schrecken gleichsam in einem spiegelnden Schutzschild sichtbar zu machen. Spielberg weiß das auch; deshalb hat er, als er Premiere von SS-Männern erzählte, die Babys aus den Fenstern warfen und sie wie Tontauben erschossen, gesagt: „Das konnte ich unmöglich zeigen, nicht einmal mit Puppen.“
Der Film erreicht seinen Tiefpunkt, wenn eine Gruppe sogenannter „Schindlerjuden“ sich plötzlich in Auschwitz wiederfindet, auf dem Weg zu den Duschen. Diese Szene basiert auf einem einzigen Satz in Keneallys Buch, aufs unerträglichste zum vollen Spannungsbogen von Thrill bis Rettung-in-letzter-Minute ausgedehnt. Wird eine Bombe der Alliierten fallen? Wird die Rote Armee kommen? Die amerikanische Kavallerie? Vielleicht haben Sie sich schon einmal in eine Gaskammer hineingeträumt – Steven Spielberg will auch diesen Alptraum noch besetzen.
Die Ausnahme ist Hollywoods Regel
„Schindlers Liste“ ist sentimental, aber es könnte schlimmer sein. „Die Farbe Lila“ war ein noch viel schäbigeres Geschwafel, und „Sophies Entscheidung“, in dem eine katholische Überlebende von ihrem jüdischen Geliebten malträtiert wird, ist noch viel verabscheuungswürdiger. Vielleicht wird „Schindlers Liste“ sogar eine positive Wirkung haben. Die Fernsehserie „Holocaust“ hatte durchaus eine pädagogische Funktion in Deutschland; und Umfragen zeigen, daß fast 40 Prozent der Amerikaner entweder nicht wissen oder anzweifeln, daß europäische Juden im Zweiten Weltkrieg systematisch ermordet wurden.
Für manche könnte die Originalität von „Schindlers Liste“ in der exzeptionellen Figur liegen, die Schindler verkörpert – als wäre nicht gerade die Exzeptionalität die eiserne Regel in Hollywood! In der letzten Stunde führt Schindler seine Juden zu einer neuen Fabrik im Sudetenland. Da können sie den Sabbath begehen und leiden weder Krankheit noch Hunger.
Das Filmposter, auf dem eine väterliche Hand die Hand eines Kindes festhält, ist nicht das einzige, was in „Schindlers Liste“ an „E.T.“ erinnert. Das Pathos des abwesenden Vaters ist und bleibt das profundeste Gefühl in Spielbergs Universum. Während er sich selbst als „Kriminellen“ anklagt, sich erbost, er habe „nicht genug getan“, steht Schindler allein auf der Bühne und empfängt die Bewunderung der Massen. (Er bittet um drei Schweigeminuten, aber weil es ein Spielberg-Film ist, können nicht mehr als drei Sekunden vergehen, bevor das Kaddisch ertönt.) Und die Schindlerjuden? Zu Nebenrollen in ihrem eigenen Untergang reduziert, hängen sie im Krakauer Ghetto herum und reißen jüdische Witze. Es gibt keine Debatte, kein politisches Bewußtsein, keine Verzweiflung, keinen Verrat, kein Gespür dafür, daß da eine Unmenge verschiedener Klassen und Kasten zusammengepfercht wurden, weil sie Juden waren. Schindler thront über allen. Spielbergs Juden sind nur als Massen präsent, letztlich sind sie Opfer oder Kinder.
Die individualisierteren Charaktere – weise Tanten, heißblütige orientalische Schönheiten, intellektuelle Träumer oder Schwarzmarkthändler – sind würdige Varianten von Stereotypen, die gar nicht mal schlecht in die Nazi-Kosmologie gepaßt hätten. Der stärkste jüdische Charakter (Ben Kingsley) ist verklemmt und kratzbürstig, ein heldenhafter Buchhalter.
Weil er ohne Scheu ist, das Positive zu betonen, konzentriert sich „Schindlers Liste“ notwendigerweise auf die Nichtjuden. Da ist der gutaussehende Held und ein leicht erkennbarer Schurke.
„Shoah“ zum Beispiel ist ein Film über den Tod, dem wieder und wieder und wieder und wieder niemand entkommt. Hier überleben die meisten Juden, und die meisten sind angemessen dankbar, statt unerquicklich traumatisiert. Eine Violine der Hoffnung begleitet die Präsentation von Schindlers Liste für: Das zufriedene Nicken und Lächeln der auserwählten Juden erinnert an eine Ladung armer Waisenkinder, die sich so gut benommen haben, daß man ihnen einen Trip nach Disneyland spendiert. Totale Seligkeit, pure Begeisterung. Das Böse ist nicht unvermeidlich.
„Jedesmal wenn wir ins Kino gehen“, sagt Spielberg, „sehen wir Magie. Ob man acht Stunden ,Shoah‘ sieht oder ,Ghostbusters‘ – wenn die Lichter ausgehen, ist ein Zauber da.“
Man könnte eine Religion auf der Transformation von ZyklonB zu Wasser gründen. In einem einzigen Jahr hat Spielberg die Dinosaurier reanimiert und die Juden aus Polen aus der Vernichtung zurückgeholt. „Ich habe mich so geschämt, ein Jude zu sein“, hatte er Premiere erzählt, „und jetzt bin ich stolz.“
Vernichtung ist unappetitlich. Sie werden aber keine Probleme haben, nach „Schindlers Liste“ essen zu gehen. Es ist ein geschmackvoller Film.
Der Artikel erschien zuerst in der „Village Voice“ vom 21.Dezember 1993.
Übersetzung: mn
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