Die Rehabilitierung der Versager

Bundesregierung vertraut weiter auf GSG 9, die beim Einsatz in Bad Kleinen ein einziges Chaos anrichtete / Abschlußbericht zu Vorfällen auf dem Bahnhof provoziert neue Fragen  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) – Die „psychische Ausnahmesituation“ während des Einsatzes war „begleitet von einer Einengung des Wahrnehmungsfeldes und nicht immer logisch und rational nachvollziehbaren Handlungsweisen“. Als Wolfgang Grams die Treppe zu Bahnsteig 3/4 heraufstürzte und ein halbes Dutzend Beamte der Grenzschutzgruppe 9 unter Kriegsgeheul hinterher, da „wurde teilweise verdrängt, daß man einen der gefährlichsten Terroristen verfolgte“. Der kollektive Blackout der Eliteeinheit setzte sich fort, nachdem der Beamte Michael Newrzella tödlich getroffen zusammengebrochen war: „Durch den extrem kurzen Verlauf des Schußwechsels“ kam „die Reihenfolge der Wahrnehmung durcheinander“.

Verständnisvoll psychologisierend nähert sich die Bundesregierung in ihrem Abschlußbericht zum Katastropheneinsatz von Bad Kleinen dem Phänomen GSG 9. Die coolen Jungs, jahrelang auf einen Einsatz wie diesen hintrainiert, hatten offensichtlich durchgedreht – und anschließend mit allerlei phantastischen Erzählungen versucht, einen „nahezu schulmäßigen Verlauf des Einsatzes“ vorzutäuschen. Der jedoch, erklärt die ermittelnde Staatsanwaltschaft Schwerin, „kann so nicht stattgefunden haben“.

Insbesondere der Beamte mit der Legendierung Nr. 6 – zwischenzeitlich verdächtigt, Wolfgang Grams getötet zu haben – tischte den Ermittlern immer neue „objektiv unrichtige Geschehensabläufe“ auf, die nicht den Tatsachen entsprechen konnten. Als dies nicht mehr weiterhalf, versicherte er, er habe „Grams jedenfalls nach dessen Sturz auf das Gleis nicht mehr bewußt wahrgenommen“ – obwohl dieser offen und nur wenige Meter entfernt vor ihm lag.

Für die Bundesregierung, die sich bei ihrer Einschätzung ausdrücklich auf den GSG-9- Hauspsychologen stützt, sprechen die widersprüchlichen Versionen „nicht gegen die Aufrichtigkeit der Beamten“, sondern „vielmehr für die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens um Aufklärung“. Schließlich liege es „auf der Hand, daß sich das Erkenntnisbild eines jeden Beamten – u. a. auch durch Abgleich der Erfahrungen aus den Vernehmungen sowie in Gesprächen im Kollegenkreis über die Vernehmungen – fortentwickelte“. Eine Zeugenbeschreibung, die jeden Amtsrichter erschaudern läßt.

Die offensichtliche Unbrauchbarkeit der Aussagen der unmittelbar beteiligten Beamten ändert, wie erwartet, nichts am Ergebnis der Recherchen, die die Bundesregierung unter Berufung auf die Schweriner Ermittlungen nun referiert. Danach ergibt sich, insbesondere auf Basis der diversen kriminologischen Gutachten, folgendes Bild: Der gesamte Schußwechsel dauerte nur zwischen acht und fünfzehn Sekunden, so daß sich unbeteiligte Zeugen an eine Maschinengewehrsalve erinnert fühlten. Grams wurde fünfmal getroffen und „stürzte rückwärts auf das Gleis, wo er sich – möglicherweise noch während der Schüsse der Beamten – in Suizidabsicht einen Kopfdurchschuß versetzte“. Danach vergingen 30 bis 60 Sekunden, bis der Beamte Nr. 6 sich Grams näherte und ihn „mit beidhändig auf dessen Kopf gerichteter Dienstwaffe“ sicherte. Wenig später kam der Beamte Nr. 8 hinzu. „Weitere Schüsse fielen nicht“.

Dieses Ermittlungsergebnis, glaubt die Staatsanwaltschaft Schwerin und mit ihr die Bundesregierung, werde nicht dadurch entkräftet, daß kein einziger der 142 befragten Zeugen den Selbstmord Grams' gesehen haben will. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, „daß die Aufmerksamkeit sämtlicher Zeugen zu diesem Zeitpunkt auf ein anderes Geschehen – möglicherweise auf die noch aus dem Treppenbereich schießenden Beamten – gerichtet gewesen sei“. Bleiben die Aussagen des nie enttarnten Spiegel-Informanten, eines ebenfalls anonymen Anrufers, der die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (PDS) über einen möglichen Mord an Grams unterrichtet hatte, und vor allem der Kioskverkäuferin Joana Baron, die ebenfalls gesehen haben will, wie der liegende Grams von dem vor ihm stehenden Beamten erschossen wurde. Alle drei Zeugenaussagen sind für die Bundesregierung „ohne Beweiswert“.

Insbesondere Baron habe sich angesichts der für sie völlig überraschenden Wildwestszene vor ihrem Kiosk in einem „schockähnlichen Zustand“ befunden und demzufolge „in sich widersprüchlich, nicht folgerichtig und lückenhaft“ ausgesagt. Im Gegensatz zu den Beamten der GSG 9 blieb die Zeugin allerdings in mindestens vier Vernehmungen im Kern bei ihrer ursprünglichen Aussage. Besondere Aufrichtigkeit wird ihr deshalb nicht attestiert.

Der Abschlußbericht, der den Pannenbericht vom August 1993 ergänzen soll, bleibt im Kern bei der damals bereits vertretenen Version. In Details weicht er von ihr ab. Insgesamt werden zehn „Schwachstellen in der Arbeit der beteiligten Sicherheitsbehörden“ eingestanden, insbesondere die tagelang verzögerte Weitergabe der Zeugenaussage der Kioskverkäuferin und der ersten Obduktionsergebnisse, die ergeben hatten, daß Grams durch einen aufgesetzten Kopfschuß ums Leben gekommen war.

Die Pannenserie begann jedoch nicht erst mit dem unmittelbaren Einsatz. Zwei Tage vor dem Showdown in Bad Kleinen hatte der Observationstrupp des BKA Hogefeld und den V-Mann Klaus Steinmetz in einem Ferienhaus in Wismar ausgemacht, dessen Zugang ab 22 Uhr diskret per Video überwacht wurde. Die geheimen Beobachter warteten und warteten, bis das Paar endlich am nächsten Abend um 19.05 Uhr auftauchte. Doch Hogefeld und Steinmetz kamen nicht wie erwartet von drinnen, sondern von draußen. Die BKA-Cracks hatten den Hintereingang übersehen. Die „Observationslücke“ währte fast 24 Stunden.

Neue Fragen könnte ein anderer Vorgang auslösen, dem der Schlußbericht der Bundesregierung auf Seite 22 ganze sieben Zeilen widmet. Danach hatte ein „nicht direkt am Zugriff beteiligter Beamter“ nach Birgit Hogefelds Festnahme in der Unterführung und unmittelbar nach dem Ende der Schießerei noch einmal Alarm geschlagen, „weil keiner der auf dem Bahnsteig befindlichen Beamten Angaben zu Hogefelds Verbleib machen konnte“. Das Chaos war perfekt. O-Ton Schlußbericht: „Die anschließende Suche, an der sich der Beamte GSG 9 Nr. 6, der Grams sicherte, nicht beteiligte, trug zu Hektik und Nervosität unter den Einsatzkräften bei.“ Wie lange Nr. 6 mit dem verletzten Grams allein blieb und was geschah, während die Kollegen erneut das Bahnhofsgelände durchkämmten, geht aus dem Bericht nicht hervor.

Vierzehn Seiten widmet die Bundesregierung den Konsequenzen aus dem Debakel von Bad Kleinen. Neben (teilweise schon vor dem Einsatz vorbereiteten) „organisatorischen Maßnahmen im Bundeskriminalamt“ betreffen die Vorschläge vor allem die GSG 9. Danach soll die Einheit nach dem verkorksten Einsatz in Zukunft häufiger „an Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen des BKA in den Bereichen Staatsschutz und Organisierte Kriminalität“ beteiligt werden. Auf Länderebene gehe es darum, „durch ein vereinfachtes Anforderungsverfahren die Zahl der Unterstützungseinsätze“ zu erhöhen. Motto: Learning by doing. Außerdem wird die GSG 9 weiter aufgerüstet. Mit neuem Foto-, Video- und Fernmeldegerät und schußsicheren Unterziehwesten. Daneben wird eine „Neukonzeption der Ausstattung mit Faustfeuerwaffen und die Beschaffung von Sondermunition“ vorbereitet.

In einer Schlußbemerkung stellt die Bundesregierung fest, das „Vertrauen in die Integrität der GSG 9“ sei mit den vorliegenden Ermittlungsergebnissen „wieder hergestellt“. Die wahren Schuldigen für die Staatsaffaire Bad Kleinen sucht die Regierung anderswo: bei den Medien, die „teilweise durch vorschnelle und ungeprüfte Verdächtigungen die Grenzen der journalistischen Informationspflicht überschritten“. Insbesondere der Spiegel sei mit der Präsentation eines unglaubwürdigen Zeugen „seiner Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und den Betroffenen“ nicht gerecht geworden – und habe sich bei „den zu Unrecht belasteten GSG-9-Beamten“ nicht einmal entschuldigt.

Siehe Kommentar Seite 10