„Die Kosten machen schließlich keine Nullrunde“

■ Im Aluminiumwerk VAW Hannover gaben sich die ArbeiterInnen während der Urabstimmung fast ausnahmslos streikbereit – auf den Streik freuen jedoch tut sich keine(r)

Frühstück im Speisewagen kurz vor Magdeburg. „Stimmt ja, die Metaller wollen auch streiken.“ Mein Tischnachbar, der in Berlin die vorvorletzte U-Bahn vor dem ÖTV-Ausstand erwischt hat, verzieht das Gesicht. Er beginnt, mit heftigen Stich- und Sägebewegungen sein Brötchen zu traktieren. „Halten Sie das für klug?“ Messer und Gabel bohren Löcher in die Luft, Rühreifetzen fliegen umher und verfangen sich im Seidenblumensträußchen. Die Antwort gibt er sich selbst: „Die sind doch nicht ganz richtig im Kopf!“

Etwas später in der Werkskantine von VAW-Leichtmetall im südlichen Hannover. Die Angestellten des Aluminiumwerks sitzen vor ihren Tortellini. Blaumänner sind rar, denn die Arbeiter von der Frühschicht sind schon abgefüttert. Um zu entdecken, daß in diesem Ambiente aus Kunststofftischen und Essensdunst schon seit der Frühschicht um viertel nach fünf eine Urabstimmung läuft, muß man genau hinschauen. In einer Ecke sind zwei Kantinentische zur Seite geschoben und mit jeweils zwei Mitarbeitern und einem aufgeschlitzten Pappkarton, der Wahlurne, bestückt. Ab und zu verschwindet jemand hinter einem Paravent. Auf den grellgelben Stimmzetteln hat die IG Metall noch einmal ihre wichtigsten Forderungen aufgelistet: keine Streichung von Urlaubsgeld oder -tagen, Erhöhung der Löhne und Gehälter um bis zu 5,8 Prozent. Darunter steht die Frage nach der Streikbereitschaft. Eine Zeile weiter empfiehlt die Tarifkommission für die Metallindustrie in Niedersachsen, mit „Ja“ zu stimmen.

Und das tun wohl auch alle. Zumindest versichern sie es auf Nachfrage. 98 Prozent der 570 Beschäftigten im Hannoveraner Ableger der VAW sind in der IG Metall, resümiert Betriebsratschef Wolfgang Minninger. Dem stehen ein Handvoll Unorganisierte sowie ein Mitglied der Gewerkschaft DAG gegenüber, die nicht zur Urne gerufen werden. Um zwei Uhr haben schon alle Angestellten und Arbeiter mit Ausnahme der Spätschicht abgestimmt. „Ein gutes Zeichen“, nimmt Minninger den Ausgang der Abstimmung vorweg, „denn wer gegen den Streik ist, beteiligt sich wahrscheinlich auch nicht an der Urabstimmung.“

Der 56jährige gelernte Maschinenschlosser hat zum ersten Mal eine Urabstimmung organisieren müssen, obwohl er schon seit 21 Jahren im Betriebsrat des Hannoveraner Werks sitzt und darüber hinaus den Arbeitnehmervertretungen von VAW-Gesamt und dem Mutterkonzern Viag vorsteht. In dessen Aufsichtsrat ist Minninger ebenfalls seit 16 Jahren vertreten. Außerdem, so erwähnt ein Kollege nebenbei, ist der Vielbeschäftigte auch Viag-Europa-Betriebsrat. Doch Streikerfahrung hat er nie gesammelt, denn Niedersachsen zählt nicht – im Gegensatz etwa zum Großbezirk Nordwürttemberg-Nordbaden – zu den „Kampfgebieten“ der IG Metall.

„Ob wir streiken wollen?“ Die drei Frauen, die eben ihre Stimmzettel in den aufgeschlitzten Pappkarton geschoben haben, schauen sich an. „Wir können uns nicht alles gefallen lassen“, antwortet eine schließlich. Sie arbeitet als Sekretärin bei VAW und verdient rund 3.800 Mark brutto im Monat. Wenn – wie von den Arbeitgebern gefordert – das Urlaubsgeld wegfällt und eine Nullrunde die Einkommen der Inflation preisgibt, gibt es pro Monat etwa zehn Prozent weniger. Diese Rechnung hat „Kollege“ Minninger einen Tag zuvor bei der Betriebsversammlung aufgemacht. Zehn Prozent weniger bedeuten für die Sekretärin minus 380 Mark. „Kein existentielles Problem, weil mein Mann auch verdient“, sagt sie. Aber weh tut es eben doch.

Ihre Kollegin, eine 26jährige Sachbearbeiterin, trifft es härter. Sie arbeitet halbe Tage. Zusammen mit dem Geld, das der Mann als Umschüler erhält, kommt das Paar mit einem Kind auf 3.500 Mark brutto im Monat. Fällt ein Teil des Einkommens weg, müssen zuerst der Urlaub und der Wunsch nach einem neuen Auto dran glauben. „Die Kosten machen schließlich keine Nullrunde“, sagt sie.

Ob es im Werk überhaupt zum Streik kommt, darüber will kaum einer spekulieren. Das bestimmen nicht wir, sondern die IGM-Bezirksleitung, wehren die meisten ab. „Freuen tut sich keiner drauf“, sagen die drei Packer, die mit ihren 3.000 Mark brutto zu den Leichtlohngruppen gehören. „Uns bleibt keine Wahl. Wer weiß, vielleicht reicht auch ein gutes Abstimmungsergebnis schon aus, um nochmal Verhandlungen zu erzwingen.“ Angst um die Arbeitsplätze kann sie jedenfalls nicht abschrecken. „Die haben wir schon lange.“

Lange Zeit hat das Aluminiumwerk, das unter anderem die Automobil- und Luftfahrtindustrie beliefert, positive Bilanzen geschrieben. „Doch 1993 haben wir Verluste gemacht. Und in diesem Jahr gibt es gewaltig rote Zahlen“, vermutet Minninger. Im vergangenen Jahr ist außerdem ein Betriebsteil ausgegliedert und mit dem amerikanischen Unternehmen Alcoa fusioniert worden. 200 Entlassungen stehen noch bis Ende 1994 an. Außerdem mußten alle auf durchschnittlich 15 Prozent ihres zuvor übertariflichen Gehalts verzichten. Ein 24jähriger Elektroniker, Vater von zwei Kindern, hat vor sieben Jahren bei VAW angefangen. „Inzwischen haben viele das Gefühl, daß sie nichts mehr zu verlieren haben“, sagt er.

„Die Arbeitgeber haben einen entscheidenden Fehler gemacht“, sinniert Minninger bei einem letzten Kaffee in der Kantine. „Mit Einschnitten beim Lohn hätten sich die Leute eher abgefunden als mit einem gestrichenen Urlaubsgeld. Das setzen viele mit Verzicht auf Urlaub gleich.“ Und die Arbeitgeber haben damit signalisiert, daß sie das Rad der Geschichte zurückdrehen und Erkämpftes wieder einkassieren wollen. „Dieses Jahr das Urlaubsgeld und nächstes Jahr vielleicht die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall?“ fragt Minninger. „Nicht mit uns, dafür haben wir in den 50er Jahren 16 Wochen lang gestreikt.“ Silvia Schütt, Hannover