Festnahmen in China

■ Wei und andere Dissidenten

Hongkong (taz) – Chinas bekanntester Dissident, Wei Jingsheng, ist gestern erneut festgenommen worden. Er war im September 1993 nach über 14jähriger Haft freigelassen worden. Berichten zufolge haben die Polizisten, die ihn gestern morgen aus der Pekinger Wohnung seines Bruders holten, erklärt, Wei werde mindestens zwei Tage in Haft bleiben.

Am vergangenen Sonntag war der 43jährige mit dem US-Unterstaatssekretär für Menschenrechte, John Shattuck, zusammengetroffen. Dabei hatte Wei die USA aufgefordert, weiterhin auf die Verbesserung der Menschenrechte in China zu pochen. Wei hat die Behörden auch verärgert, weil er sich in einem Brief an das Internationale Olympische Komitee für einen anderen politischen Gefangenen eingesetzt hat: für Qin Yongmin, der im Januar zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt worden ist – unter anderem wegen seiner Opposition gegen die Pekinger Bewerbung um Olympia 2000.

Am 10. März wird die jährliche Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking eröffnet. Die Behörden reagieren gewöhnlich vor größeren politischen Veranstaltungen besonders nervös und versuchen die Bewegungsfreiheit von Dissidenten einzuschränken, von denen sie Unannehmlichkeiten befürchten. Merkwürdigerweise kommt die erneute Festnahme aber auch genau eine Woche vor der Ankunft von US-Außenminister Warren Christopher. US-Präsident Bill Clinton hat erklärt, er werde die Meistbegünstigungsklausel für China nur verlängern, wenn es entscheidende Verbesserungen bei den Menschenrechten gibt. Möglicherweise zeigen sich jetzt auch differierende Vorstellungen innerhalb Chinas Führung in bezug auf die Menschenrechtspolitik. Vorgestern erst hat Chinas Staatsrat fünf US-Journalisten eingeladen, den politischen Häftling Liu Gang im Lingyuan-Arbeitslager zu besuchen – das erste Mal, daß ein politischer Gefangener der Demokratiebewegung von 1989 von Journalisten besucht werden darf. Am gleichen Tag jedoch wurde Zhou Guoqiang verhaftet, der zu den Autoren der „Friedenscharta“ vom November vergangenen Jahres gehört. Auch Wang Dan wurde in dieser Woche für einen Tag festgenommen. Ruth Bridge