■ Hochkonjunktur am belgischen Obersten Gerichtshof
: Alle 129 Jahre wieder

Brüssel (taz) – La Cour de Cassation, der oberste belgische Gerichtshof, steht vor einer Prozeßflut. Das Parlament hat das hohe Gericht beauftragt, dem schweren Korruptionsverdacht gegen den kürzlich zurückgetretenen Vize- Premierminister Guy Coeme nachzugehen. Logischerweise müßten die Richter auch die anderen beiden Hauptverdächtigen, den ebenfalls zurückgetretenen wallonischen Ministerpräsidenten Guy Spitaels und seinen Ex-Regionalminister Guy Mathot vorladen. Das wären dann gleich drei Anklagen in diesem Jahrhundert, eine Steigerung um 200 Prozent gegenüber dem 19. Jahrhundert. Das letzte Mal wurde das Gericht vor knapp 130 Jahren behelligt. Am 12. Juli 1865 mußte über den Fall Chazal verhandelt werden. General-Baron Chazal, eingebürgerter Franzose und zur Tatzeit Kriegsminister des belgischen Königs, hatte sich in einem Reitstall im Brüsseler Vorort Saint-Josse mit dem Anderlechter Volksvertreter Delaet duelliert. Der strafrechtlich relevante Teil der Geschichte beschränkt sich auf das Duell, das damals schon verboten war, weil die Könige es nicht schätzten, wenn sich die Armee feindlos dezimierte. Chazal mußte mit acht Tagen Arrest und 200 Francs Strafe büßen. In der Zwischenzeit haben sich die Richter des Cassationshofs ausschließlich mit der Revision von Urteilen beschäftigt, die von niederen Gerichten gefällt wurden. Dafür ist es eigentlich zuständig. Aber wenn es um die kriminellen Seiten von Regierungshandlungen geht, dann dürfen nur die allerobersten Richter die Rechtssuche eröffnen.

Guy Coeme war immerhin Verteidigungsminister, als er 1988 einen Testbericht über Militärhubschrauber gefälscht haben soll. Mit dem Ergebnis, daß die Armee 46 Helikopter für umgerechnet 600 Millionen Mark in Italien kaufte, obwohl alle Experten der Meinung waren, daß die Angebote aus Deutschland und Frankreich um vieles besser gewesen wären. Aber die hatten vergessen, der Beschreibung ihres Kriegsgerätes eine befriedigende Spendenzusage für Coemes Partei beizulegen, so wie die italienische Rüstungsfirma Agusta das gemacht hat.

Wer außer Agusta und den drei belgischen Guys noch in den Deal eingeweiht war, ist zur Zeit Gegenstand breiten öffentlichen Meinungsaustausches. Ziemlich sicher hatte auch der damalige Sozialistenchef Andre Cools mit der Sache zu tun, ohne daß man bis heute weiß, ob Cools nur zuviel wußte oder auch zuviel wollte. Jedenfalls wurde er 1991 erschossen, Mörder unbekannt.

Ähnlichkeiten mit den Geschichten des Lütticher Krimiautors Simenon sind rein zufällig und von der sozialistischen Partei sicher nicht gewollt. Aber es fällt auf, daß die gesamte politische Klasse Walloniens wie auch in Brüssel ein ausgeprägtes Desinteresse an den Tag legt. Lediglich die flämischen Konservativen stänkern ein bißchen und verdächtigen noch weitere sozialistische Politiker. Aber nur, solange sie zu Hause in Flandern sind. In der Hauptstadt halten sie sich auch zurück, was möglicherweise damit zu tun hat, daß jeder weitere Rücktritt eines sozialistischen Ministers die vier Parteien-Koalition gefährden würde und daß nach allen Umfragen bei Neuwahlen auch die Konservativen verlieren würden. Gewinnen würden nur die Rechtsextremen, was auch die flämischen Christlichen nicht verantworten wollen.

Was Coeme beruhigen dürfte: Baron Chazal konnte nach seiner Verurteilung noch 17 Monate lang Kriegsminister bleiben, er durfte auch danach noch seinem König in verschiedenen Missionen dienen, wurde sehr alt und starb als hochgeachteter Mann. Allerdings mußte er keine Partei finanzieren. Alois Berger