Nora Zwei und das Ibsendilemma

■ Henrik Ibsens Klassiker aus Frauensicht: „Nora, Ein Puppenheim“ im Schauspielhaus

Nein, der heutige Mann ist schon um einiges gescheiter, meiner Treu! Nie würde er wie damals in der Ibsenwelt sein Weib auf offener Bühne als sein „Singvögelchen“ und „Eichhörnchen“ lachhaft machen, nie würde er es so unverhohlen als sein Püppchen gefangenhalten im goldnen Puppenheim, nein, er würde sich schwerstens hüten.

Aber der Bankdirektor ist immer noch er, hahaha, wer sonst, während wir uns seine Nora, seit sie ihm vor Jahrzehnten fortgelaufen ist, vorstellen müssen, wie sie jeden Abend in der Kneipe steht, um sich das Sozialpädagogikstudium zu fristen. Oder jedenfalls so ähnlich. Wir wollen dieses häßliche Unverhältnis das Ibsendilemma nennen, und wer heutzutage die „Nora“ aufführt, sollte es bedenken.

Tobias Lenel hat es nicht bedacht, und es ist trotzdem gut geworden am Sonntag im Schauspielhaus, schon auch weil das Stück, wenn man's nur läßt, kaum schiefgehen kann: So flauschig fängt es an im heimischen Glück, da der Bankdirektor Helmer sein Norapüppsken umturtelt; so rasant strebt es aber dann durch alles Hin und Her verhängniswärts. Da sehen wir die prachtvolle Ibsenmaschine bei der Arbeit: Nieder saust das Verhängnis, empor reißt das Rettende, kunstreich wirkt eines ins andere, und es gibt nicht Einhalt noch Ausweg, nur von beidem reichlich den Anschein. Immerzu arbeitet Ibsen auf Lösungen hin, bloß um sie desto gründlicher zu verleiden: Es hilft ja nichts, wo alles gelogen ist. Am Ende, da Nora auf und davon geht, bleibt fassungslos der Gatte zurück mit den drei Kindern, und es ist doch eigentlich niemand schuld gewesen.

Jede Menge Vervieldeutigungsarbeit für die Schauspieler. Justina del Corte ist eine Nora von quirliger Charmanz; sie hat einen langen Weg zurückzulegen von der Naschkätzchenhaftigkeit des Anfangs bis zur Bereitschaft, alle Brücken niederzureißen, und sie bewältigt den Weg zu einem guten Teil. Bloß wo ihr gar zu finster werden soll, ermattet sie ein wenig, wie aus Ratlosigkeit: Das Gefühl, vor lauter Wahrung von Anstand zu ersterben, ist ja vielleicht auch in heutigen Seelen gar nicht mehr aufzufinden.

Dem Andreas Keller als Bankmensch Helmer geht's jedenfalls im umgekehrten Sinne auch nicht besser. Man sieht sehr schön, wie die Belange der Moral und der Karriere unauflöslich verwurschtelt in seinem Sturschädel herumwalken. Aber wenn er gar zu hopplahopp vor allen Leuten auf den guten Sitten herumreiten muß, auf denen seine Vormacht beruht, dann weiß auch Keller nicht mehr so recht und weicht aus in die komödiantische Knallität.

Das ist eben das Ibsendilemma. Seine hochheiklen Seelenverhältnisse mitsamt ihren Ehrbegriffen sind dem neunzehnten Jahrhundert in die Geschichtsbücher gefolgt, während die uralten Machtverhältnisse, aus denen sie hervorgingen, uns angrinsen wie frisch gebadet. Was tut man da? Man zwinkert zurück und ist ein bißchen verlegen.

Der Regisseur Tobias Lenel hat sich auf das Überzeitliche, also vor allem die Sprache verlassen und hat gut daran getan, das Bühnenbild (Cora Steinbock) atmet zweckmäßige Salonkühle, die Schauspieler sehen zu, daß sie über die tragödischen Momente hinwegkommen, und das Publikum muß mit dem seltenen Umstand fertig werden, daß es das, worauf da oben allesamt hinzittern, doch irgendwie schon oftmals in dritter Ehe hinter sich hat.

Der Abend ist also vornehmlich ein Warten darauf, wenngleich ein sehr kurzweiliges, bis am Ende auch noch die Ibsenwelt nachkommt. Vielleicht hätte jemand den Mumm, mit der Nora gerade dort anzufangen, wo Ibsen aufgehört hat, mit einer Nora, die das Abi nachgemacht und auch noch ein Studium geschafft hat und nun doch keine Professorin wird. Kurzum: Wer dreht die Fortsetzung, sagen wir „Nora II - Die Schlacht um den Lehrstuhl“? Nein, dann doch lieber Ibsen.

Manfred Dworschak

Nächste Aufführung: morgen um 20 Uhr im Schauspielhaus