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Schöne, heile Kulturwelt also

■ Auf der Internationalen Tourismusbörse zieht Berlin als „Kulturmetropole“ ins Bewußtsein / Reisebranche klagt über hohe Übernachtungspreise der Hauptstadthotels

Wie gut, daß es die Internationale Tourismusbörse (ITB) gibt! Dort wird aufgeklärt. Berlin beispielsweise präsentiert sich als „die deutsche Kulturmetropole“, wirbt in Hochglanzbroschüren mit mehr als 350 Galerien, drei Opernhäusern, 60 Theatern und vielen, vielen Off-Bühnen, Kabaretts und Varietés.

Damit die Besucher der weltgrößten Reisemesse denn auch Appetit auf das pulsierende Stadtleben bekommen, haben die Tourismusmacher in Halle 12 den Alexanderplatz aufgebaut: Siegessäule und Fernsehturm sollen die zusammenwachsende Stadt symbolisieren. Auf helleuchtenden Litfaßsäulen schimmern wilhelminische Bauten. Davor ist eine Figuren-Arkarde mit historischen Größen der Stadt drapiert: Marlene Dietrich und Josephine Baker, Bertolt Brecht und John F. Kennedy — als wenn sie dem Zeitgeschehen auch heute noch ihren Segen erteilen wollten.

Die Reiseveranstalter haben sich das „bärenstarke“ Angebot lange zu eigen gemacht und gehen mit der „schrillen, verschrobenen Kreativ-Szene und dem Zille-Milieu am Prenzlauer Berg“ auf Kundenfang, werben mit dem Tacheles – ungeachtet dessen, daß dieses unkonventionelle Kulturprojekt manchen Stadtplanern eher ein Dorn im Auge ist.

Wohl deshalb rückt Berlin selbst seine Renomierprojekte in den Vordergrund: Der Wintergarten Varieté verzaubert ITB-Besucher ins Kulturleben der zwanziger Jahre und Stars von „Shakespeare & Rock'n'Roll“ erteilen Musical- Liebhabern Autogramme. Eine schöne, heile Kulturwelt also.

Gleichzeitig aber auch verpflichtend: Durch Hervorheben der gigantischen Vielfalt wird es sich der Senat natürlich auf Lebenszeit nicht mehr leisten können, ein Opernhaus zu schließen oder Gelder zu kürzen, ohne gleichzeitig sein Gesicht zu verlieren.

Kultur, weltstädtischer Flair und die Geschichte der Stadt reichen jedoch kaum, Kunden zu locken. Auch der Preis muß stimmen. Seit dem Fall der Mauer ist es für Veranstalter schwieriger, Berlin zu verkaufen. „Die Stadt ist irrsinnig teuer“, klagt Melf Türkis von Meier's Weltreisen, „Hotelpreise schnellen in die Höhe.“ Türkis Bedenken werden durch die Übernachtungszahlen hiesiger Hotels untermauert. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes waren die etwa 44.000 Hotelbetten der Hauptstadt 1993 nur zu 47,3 Prozent ausgelastet. Insbesondere die Herbergen im Westteil zählten 6,1 Prozent weniger Gäste als im Vorjahr. Und für das Jahr 1994 wird mit einem weiteren Rückgang gerechnet.

Viele Firmenvertreter fliegen beispielsweise nach Geschäftsterminen am gleichen Abend wieder zurück, um Übernachtungskosten zu sparen. Hinzu kommt, daß Touristen nicht auf ihre Haupturlaubsreise verzichten, für eine weitere Kurzreise nach Berlin allerdings kein Geld haben.

Claus Dieter Barg, Professor für Tourismus an der Fachhochschule Heilbronn, sagt, daß „der Leidensdruck der Berliner Hotels“ noch nicht groß genug ist. Ein immenser Fehler sei es, daß die Häuser sich nicht am Marketingkonzept der Stadt beteiligen, das ohnehin an einer klaren Struktur leide.

Auf der ITB können derartige Mißstände das Interesse an der Hauptstadt allerdings nicht trüben. Berlinaufkleber und -broschüren sind ebenso gefragt wie Nippes: Holzherzchen mit eingelegtem Brandenburger Tor, Weingläser mit Bärenemblem und Berlinkulis. Und daß die Stadt sich auch von ihrer sozialen Seite zeigt, beweist der Stand der Stadtmission: Seelsorger Gerhard Niemann betreut alle Messebesucher, die neben Fernweh und dicken Beinen vom Rumlaufen plötzlich einen Koller bekommen. Er sagt: „Manchen Menschen ist der Berliner Rummel einfach zuviel.“ Tomas Niederberghaus

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