: Socken auf Ratenzahlung in Santiagos Malls
Heute übernimmt in Chile der neue Präsident Eduardo Frei sein Amt / Chile ist das Land des lateinamerikanischen Wirtschaftswunders, überall wird der neue Reichtum zur Schau gestellt / Aber die Ungleichheit ist geblieben ■ Von Jens Holst
Sie ist in dem Gewühl beinahe nicht zu erkennen. Dabei sind ihre Begleiter nun wirklich auffällig. Mit zwei selbstgebauten, buntgekleideten Marionetten wandert Catalina von morgens früh bis spät in die Nacht durch die drei Etagen des futuristischen Einkaufszentrums. Während sich der Nachwuchs von Catalinas Spiel mit den kindsgroßen Puppen faszinieren läßt, können die Eltern ungestört die luxuriös dekorierten Schaufenster begutachten. Es gibt wirklich alles, was das Herz der ChilenInnen höher schlagen läßt: Delikatessen, Schmuck, teure Parfums, sogar Autos und Motorräder. Kurz vor Weihnachten wurde das Einkaufszentrum „Alto de Las Condes“ eröffnet. In offener Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild werden in der chilenischen Hauptstadt solche Malls hochgezogen, die wie kaum etwas anderes das neue Chile symbolisieren.
Die uralten Stadtbusse, die in früheren Zeiten zu Tausenden die Hauptstraßen verpesteten, sind durch umweltfreundlichere Modelle ersetzt worden. Überall wird der neue Reichtum zur Schau gestellt. Die chilenische Metropole Santiago wimmelt von Neuwagen, darunter die aktuellsten Modelle aus Japan und deutsche Edelkarossen. Ein regelrechter Bauboom hat die Hauptstadt erfaßt, in den reicheren Stadtvierteln schießen supermoderne Geschäftsbauten für die aufstrebende chilenische Wirtschaft aus dem Boden. Unaufhaltsam wächst Santiago die Abhänge der Anden hinauf, die neuen Reichen haben in Santa Maria de Manquehue kleine Paläste in modischem mediterranem Design und kitschigem Altrosa errichtet. In den Urlaubszentren des Landes wird eine Mischung aus Benidorm und Acapulco nachgebaut, kleine Küstenorte verwandeln sich in riesige Hotelanlagen. Hier versammeln sich in den Sommermonaten die Gewinner des chilenischen Booms.
Spät abends zu Hause bügelt Catalina lustlos die Miniaturkleider aus gelbem und rotem Stoff. Daneben liegen die Holzgerippe der Marionetten. „Am Anfang hat es noch Spaß gemacht“, erzählt sie, „aber nach ein paar Tagen wurde es langweilig. Aber die zahlen eben total gut, soviel kann ich woanders gar nicht verdienen!“ 200.000 Pesos, umgerechnet fast 1.000 Mark, bekommt sie in der Vorweihnachtszeit für insgesamt zwölf Arbeitstage, für chilenische Verhältnisse ein fürstlicher Lohn. Der deutschstämmige Besitzer des „Alto de las Condes“ kann sich das leisten. Schließlich ist der Standort dieses Konsumtempels nicht zufällig gewählt. 90 Prozent der Kaufkraft im Großraum Santiago sind in seinem Einzugsbereich konzentriert. In einem Umkreis von 15 Autominuten leben 500.000 Menschen, von denen 86 Prozent zur Oberschicht gehören.
Doch auch die Armen bekommen ihr Stück vom Kuchen ab, auch für die Konsumbedürfnisse der Unterschicht wird im chilenischen Wirtschaftswunder gesorgt. Allerdings mit anderen Spielregeln. „Heute kaufen – erst in drei Monaten bezahlen“ ist der beliebteste Werbespruch in einem Einkaufszentrum in La Florida im Süden von Santiago. Nicht nur teurere Artikel werben mit der Ratenzahlung, auch Kleinigkeiten wie ein Paar Socken oder Taschentücher können auf Pump gekauft werden. Dieses Verfahren kommt den Einkommensverhältnissen der Bevölkerung in den ärmeren Stadtvierteln entgegen. Regierungsvertreter verweisen zwar bei jeder Gelegenheit darauf, daß seit dem Ende der Militärdiktatur gerade die untersten Einkommen am stärksten gestiegen sind. Diese Einschätzung bestätigt Pedro Sáenz von der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, CEPAL: „Die niedrigsten Löhne haben in Chile einen großen Sprung getan. Bei den Leuten, die einen halben Mindestlohn verdienen, gab es sogar eine Steigerung um 40 Prozent.“
Aber die beeindruckenden Prozentzahlen sind real überaus bescheiden. Im Klartext bedeutet es eine Lohnsteigerung von 85 auf etwa 120 D-Mark pro Monat. Nach dem Arbeitsgesetz der Pinochet- Diktatur, das weiterhin in Kraft ist, dürfen Hausangestellte und Hilfsarbeiter legal mit einem halben „salario minimo“ abgespeist werden, der bei monatlich knapp über 170 Mark liegt. Bei den chilenischen Lebenshaltungskosten, wo ein Kilo Brot fast 1,60 Mark und ein Liter Milch 1,20 Mark kosten, reicht das kaum zum Überleben. Und es reicht eben nicht aus, um Anschaffungen wie Haushaltsgeräte, Hosen, Röcke oder auch nur Socken bar zu bezahlen.
Dennoch sind die Aussichten für die einkommensschwache Bevölkerung in Chile besser als in allen anderen Ländern der Region. Nach Berechnungen der CEPAL sank der Anteil der Armen in Chile, die mit weniger als 400 Mark monatlich auskommen müssen, zwischen 1987 und 1992 von 44,4 auf 32,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, bei der extremen Armut fiel der Rückgang von 16,8 auf 9,0 Prozent im gleichen Zeitraum noch deutlicher aus. Trotz dieser erfolgversprechenden Zahlen gesteht Pedro Sáenz ein, daß sich die Einkommensverteilung in Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur insgesamt kaum geändert hat. Anfang der 90er Jahre klafft die Schere zwischen Arm und Reich sogar immer weiter auseinander. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung nahezu 40 Prozent des nationalen Einkommens einstreichen, muß sich das ärmste Zehntel mit zwei Prozent begnügen. Solange die obersten Einkommen weiterhin schätzungsweise um sieben Prozent jährlich steigen, wird Chile trotz der ökonomischen Erfolge ein Land krasser sozialer Gegensätze bleiben.
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