Einen Fisch auf dem Baum fangen

Chinas Nationaler Volkskongreß tagt / Li Peng warnt vor überhitztem Wachstum / US-Außenminister Warren Christopher will in Peking Zugeständnisse in Sachen Menschenrechte erreichen  ■ Von Ruth Bridge

Hongkong (taz) – Chinas Führung ist in diesen Tagen stark beschäftigt: Seit gestern findet in Peking eine der wichtigsten innenpolitischen Veranstaltungen statt. Und heute kommt US-Außenminister Warren Christopher in die chinesische Hauptstadt, um seinen Gastgebern möglichst viele Zugeständnisse zu entringen.

Zum Auftakt der jährlichen Sitzung des nationalen Volkskongresses erklärte Premierminister Li Peng in seinem politischen Rechenschaftsbericht, daß die Stabilität des Landes nur bewahrt werden könne, wenn das ökonomische Wachstum gebremst wird. Statt wie 1993 um 13 Prozent soll die Wirtschaft in den kommenden Jahren nur um neun Prozent wachsen: „Wir müssen“, sagte er, „die Beziehung zwischen Reform, Entwicklung und Stabilität korrekt handhaben [...] Gesellschaftliche Stabilität ist eine unverzichtbare Vorbedingung für die wirtschaftliche Entwicklung und ein reibungsloses Voranschreiten der Reform.“

Über diese Zielsetzung hinaus ist von der diesjährigen Sitzung des Nationalen Volkskongresses wenig Substantielles zu erwarten. Es gibt keine kontroversen Gesetzesvorlagen, und es wird keine wichtigen Personalveränderungen geben.

Li Pengs Rede deutet darauf hin, daß es sich in der Innenpolitik um eine Zeit der Konsolidierung handelt. In der Außenpolitik ist die chinesische Regierung jedoch dabei, sich in ein neues Gefecht um die Menschenrechte zu begeben.

Wahrend seiner gestrigen Rede verkündete Li, daß China im vierten Jahr hintereinander seinen Kampf vor dem UNO-Menschenrechtsausschuß der UNO gewonnen hat: Wieder kam eine Resolution, die die Lage der Menschenrechte in China kritisierte, nicht durch. Die Pekinger Regierung hatte in Genf erklärt, daß eine solche Resolution eine Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten wäre. Sie hatte damit die Vertreter von 20 Ländern – einschließlich vieler afrikanischer Staaten – überzeugen können, die Resolution nicht abzustimmen, gegen die Voten von 16 Staaten bei 17 Enthaltungen.

Die USA hatten die Resolution unterstützt, und so war das Abstimmungsergebnis besonders erfreulich für China, kam es doch am Tag vor der Ankunft von US-Außenminister Warren Christopher, der heute in Peking erwartet wird. Er will drei Tage mit chinesischen Regierungsvertretern verhandeln, um Zugeständnisse im Bereich der Menschenrechte zu erzwingen – im Gegenzug für die Erneuerung der Meistbegünstigungsklausel für China im Juni dieses Jahres. Präsident Bill Clinton hat gedroht, daß die Handelsprivilegien entzogen werden, wenn es bis dahin keinen deutlichen Fortschritt bei den Menschenrechten in China gibt.

Statt dessen aber scheint China Washington eine lange Nase zu zeigen: In der vergangenen Woche wurden in Peking und Shanghai mehrere Dissidenten entweder erneut festgenommen und verhört oder angewiesen, die Stadt zu verlassen.

Das harte Vorgehen gegen Oppositionelle scheint in einer genuinen Furcht vor möglichen sozialen Unruhen begründet zu sein. Preiserhöhungen, Entlassungen in staatlichen Unternehmen und erdrückende Steuern auf dem Lande haben zu Unzufriedenheit geführt, die sogar bis in die politische Führung in Peking spürbar wurde.

Nachdem mehrere Aktivisten der Demokratischen Bewegung von 1989 aus der Haft entlassen wurden und auch einer der führenden Köpfe des Pekinger Frühlings von 1979, Wei Jingsheng, nach vierzehneinhalb Jahren freikam, fürchtete die Regierung außerdem, daß die Dissidenten sich in diesen Tagen regen würden. Und tatsächlich wandte sich gestern eine Gruppe von sieben Intellektuellen an die Delegierten des Nationalen Volkskongresses: Sie forderten die Freilassung aller politischen Gefangenen. China müsse seine tausendjährige Geschichte der Bestrafung freier Meinungsäußerung aufgeben. Ohne die Garantie von Menschen- und Bürgerrechten könne es keine wirkliche Stabilität geben, hieß es in einem Schreiben der Gruppe, zu denen Wissenschaftler, ein Richter und eine Schriftstellerin gehören. Über die Modernisierung des Landes zu sprechen, ohne von Menschenrechten zu reden, gleiche dem Versuch, „auf einen Baum zu klettern, um einen Fisch zu fangen“.

Auch der vor einem Jahr aus der Haft entlassene Studentenführer Wang Dan appellierte an den Kongreß, auch die Frage der Menschenrechte zu behandeln.

So scheint das verstärkte Vorgehen gegen Oppositionelle in den vergangenen Tagen tatsächlich vorwiegend innenpolitisch begründet zu sein. Für die Regierung in Washington aber sieht es so aus, als ob diese Handlungsweise vor allem darauf gerichtet sei, die USA zu verärgern.

Warren Christopher hat gesagt, daß er einen „starken Abscheu“ vor der Schikanierung der Dissidenten empfinde, und daß diese Maßnahmen „gewiß einen negativen Effekt auf meine Reise nach China haben werden“, ebenso wie auf die anschließende Beurteilung in Washington.

In Washington glaubt man, daß Clinton unbedingt den Meistbegünstigungs-Status für China erneuern will. Andernfalls würde es massive Störungen des bilateralen Handels geben. Aber um eine solche Entscheidung öffentlich zu vertreten, braucht er chinesische Zugeständnisse in der Menschenrechtsfrage. So kommt das Vorgehen der chinesischen Regierung Washington ungemein ungelegen. Im Weißen Haus hofft man inständig, daß Peking in letzter Minute Vernunft annimmt und noch einige Konzessionen aus dem Hut zieht.

Doch in den letzten Tagen hat sich die Kontroverse eher noch verschärft, nachdem der tibetische Dalai Lama seine Bemühung um eine friedliche Verhandlungslösung für Tibet für gescheitert erklärt hat. Die Aussicht, daß der Dalai Lama seinen beträchtlichen Einfluß zugunsten eines bewaffneten Kampfes für die vollständige Unabhängigkeit Tibets in die Waagschale werfen könnte, wird die Menschenrechtsdebatte zwischen China und den USA noch komplizierter machen.