Moskau sorgt für alle Russen

■ Programm gegen die „Diskriminierung“ in Mittelasien

Moskau (taz) – Beim „Kongreß Russischer Gemeinden“ gibt es nichts, was die nationalen Leidenschaften anstacheln könnte. Keine Landkarten, keine „Führer-“Porträts, keine aufgeregten Diskussionen. Nur in einer Ecke des Büros findet sich ein Hinweis auf die politische Gesinnung. Zwei russische Trikoloren, ergänzt durch einen Zarenadler auf gelbem Grund.

Der „Kongreß“ sieht sich als Interessenvertretung der 25 bis 30 Millionen „ethnischen Russen“, die außerhalb der Russischen Föderation in den nun unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken leben. Doch auf die Frage, was der Begriff „ethnischer Russe“ bedeutet, ist von ihm keine konkrete Antwort zu erhalten – und dies hat seinen Grund: Da es in der UdSSR viele „gemischte“ Ehen gab, konnte sich ein Jugendlicher entscheiden, ob er in seinen Paß die Nationalität des Vaters oder der Mutter eintragen lassen wollte. Viele, die laut diesem Paß russischer Nationalität sind, haben also einen nichtrussischen Elternteil.

Eines der wichtigsten Themen des „Kongresses“ ist die Emigration der „Auslandsrussen“ nach Rußland, nach Angaben des Moskauer Außenministeriums wollen derzeit 20 Prozent die Ex- Sowjetrepubliken verlassen. Daß 80 Prozent von ihnen aus den Bürgerkriegsgebieten des Kaukasus und Mittelasiens kommen, sagt einiges über die Fluchtgründe aus. Besonders drastisch ist die Entwicklung in Tadschikistan. Vor dem Bürgerkrieg lebten dort 388.000 RussInnen, Anfang 1994 waren es noch 88.000. In Kirgistan (4,6 Millionen Einwohner) lebten bis 1991 900.000 RussInnen, allein 1992 verließen 120.000 das Land. Weniger dramatisch scheinen die „Auslandsrussen“ die Lage in Kasachstan zu beurteilen. Obwohl dort sieben Millionen RussInnen leben, emigrierten 1993 „nur“ rund 200.000. Zugleich kamen aus anderen Republiken aber 160.000 Russen. In Rußland gibt es heute nach Angaben des Außenministeriums 3 Millionen Flüchtlinge. Bis zum Jahre 2000 könnte diese Zahl auf 5 Millionen anwachsen.

Gegen den großen Bruder

Doch die militärischen Auseinandersetzungen sind nach Ansicht des „Kongresses“ nicht die alleinigen Fluchtursachen. In den Mittelpunkt seiner Argumentation rückt er die „Diskriminierung der Russen“. Russische Organisationen würden verboten, die russische Sprache unterdrückt, in den Betrieben Russen entlassen und durch Angehörige der Titularnation ersetzt. Tatsache ist aber, daß es in den mittelasiatischen Republiken im Unterschied zum Baltikum keine die russische Minderheit diskriminierenden Gesetze gibt. Die Staaten sind auf die russischen Fachleute und die ökonomischen Beziehungen zu Rußland angewiesen, mit dem großen Nachbarn können sie keinen Konflikt riskieren. In Kasachstan wird der Unterricht für mehr als 50 Prozent der Schüler in Russisch abgehalten. Daß die kasachische Sprache 1989 zur Staatssprache erklärt wurde, hat noch nicht zu einschneidenden Änderungen geführt.

Während der „Kongreß“ sich bisher eher in Opposition zur russischen Regierung sah, hat sich dies in den letzten Wochen geändert. Denn seitdem die „Auslandsrussen“ bei den Parlamentswahlen im Dezember 1993 fast geschlossen für den Ultranationalisten Schirinowski stimmten, hat das Weiße Haus wiederholt erklärt, sich von nun an verstärkt um die Interessen dieser „Landsleute“ kümmern zu wollen. Laut einem Anfang Februar vorgelegten Programm wird es für die Russen im „benachbarten Ausland“ in Zukunft eine spezielle Radiostation, eine Fernsehsendung und eine Zeitung geben. Unterstützt werden soll die Gründung neuer russischer Universitäten und Gymnasien, die Erhaltung der existierenden Lehreinrichtungen und der russischen Theater.

Durch ökonomischen Druck – wie etwa die Reduzierung des Exports von Rohstoffen und Energie – will Moskau eine Diskriminierung der ethnischen Russen verhindern. Bei der Vergabe von Krediten muß nach den Vorstellungen des Außenministeriums darauf geachtet werden, daß 20 bis 30 Prozent des Darlehens der jeweiligen russischen Minderheit für Ausbildungszwecke zugute kommen.

Zudem verhandelt Moskau mit den mittelasiatischen Republiken über die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft für Russen, stößt jedoch vor allem in Kasachstan auf Widerspruch. Da die Kasachen nur 40 Prozent der Bevölkerung stellen, bedrohe eine solche Regelung die sich erst herausbildende Staatlichkeit, so die offizielle Argumentation. Tatsächlich verbirgt sich hinter der Ablehnung jedoch die Befürchtung, daß Moskau durch die doppelte Staatsbürgerschaft seinen Einfluß auf Mittelasien weiter ausdehnen wird: Rußland könne seine Einmischung in kasachische Angelegenheiten stets mit dem Argument begründen, daß dort russische Staatsbürger leben. Daher sei es vorzuziehen, eine „ruhende Staatsbürgerschaft“ einzuführen. Jeder Bürger Kasachstans, der nach Rußland emigriere, solle – wenn er dies wolle – innerhalb von sechs Monaten die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Ulrich Heyden