piwik no script img

■ Jürgen Trittin zur Beziehungskiste SPD/BündnisgrüneVor der Testwahl für Rot-Grün

taz: Der erste Urnengang des Wahljahres, aber als Testwahl wollen ihn weder CDU noch SPD, nur die Grünen sehen.

Jürgen Trittin: Daß die CDU den Begriff Testwahl meidet, ist verständlich. Spielen doch die Christdemokraten in der niedersächsischen Politk seit vier Jahren keine Rolle. Ihr hiesiges Abschneiden sollte man jedoch nicht leichtfertig auf den Bund übertragen. Das politische Gewicht ihres jungen Kandidaten, der sich auf Plakaten als Handpuppe Adenauers abbilden läßt, ist unvergleichlich geringer als das eines Helmut Kohl. Dennoch ist dies eine Testwahl. Der Wähler kann entweder die Scharping-SPD belohnen, die sich unter dem Stichwort Regierungsfähigkeit immer mehr der CDU anpaßt. Oder er kann für den Versuch stimmen, Kohl abzulösen, anstatt ihn in einer Großen Koalition zu verbreitern.

Ein recht komplexer Wahlaufruf. Doch ihr jetziger Koalitionspartner will künftig am liebsten allein regieren.

Das wollen wir auch. Die SPD präsentiert sich in diesem Wahlkampf im Stil von Helmut Schmidt. Hinter der Mehrheit der Mandate, die Gerhard Schröder erschleichen möchte, verbirgt sich nur die Renaissance einer Industrie- und Umverteilungspolitik, wie wir sie aus dem Ende der Ära Schmidt kennen. Ein solches Remake, eine SPD aus klassischem Betonguß, wird Helmut Kohl nicht ablösen können. Das kann nur ein offensives Reformbündnis.

Sagten Sie nicht vorhin selbst, daß die SPD in Bonn eine Große Koalition ansteuere?

Die SPD möchte in Bonn regieren, auch um den Preis einer Großen Koalition und der Selbstaufgabe. Gerade diese Aussichten verleihen rot-grünen Koalitionen in den Ländern immense bundespolitische Bedeutung. Die kommende Kette von Landtagswahlen muß zu immer mehr Regierungen mit grüner Beteiligung führen. Wir brauchen im Bundesrat eine rot- grüne Sperrminorität gegen eine weitere Verschandelung des Grundgesetzes. Der Chefideologe der Republik, Wolfgang Schäuble, will den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlauben. Er will weltweite Kampfeinsätze, er will lauschen und spähen. Bei der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl fehlten den rot-grün regierten Ländern nur sechs Stimmen an der Sperrminorität. Das darf uns nicht wieder passieren.

Rot-Grün liegt doch nicht mehr im Trend. Bonner Genossen raten Gerhard Schröder zum Partnerwechsel nach der Wahl.

Zusammen mit der FDP hat Rudolf Scharping im Bundesrat an die Einkommensmillionäre 60.000 Mark pro verdiente Million geschenkt, hat dort für das Standortsicherungsgesetz gestimmt. Die Koalition mit der FDP hat ihn auf Sozialabbau verpflichtet, er mußte dem sogenannten Strukturkonsolidierungs- und Wachstumsgesetz zustimmen. Gerhard Schröder preist als seine größten Erfolge an, daß es in Niedersachsen eine andere Arbeitsmarktpolitik gibt als im Bund und daß wir uns beim Sozialabbau quergelegt haben. Für eine Koalition mit der FDP hätte er diese beiden zentralen Punkte seiner Politik kaputtzumachen. Jene Sozialdemokraten, die jetzt auf eine sozialliberale Karte setzen, werden das letzte sozialstaatliche Dekor ablegen müssen, das sie noch von der CDU unterscheidet.

Inwischen bietet sich die hiesige FDP der Niedersachsen-SPD auch offen als Koalitionspartner an. Zwischen beiden soll es bereits Gespräche gegeben haben.

Solche Gespräche gab es die ganze Wahlperiode über immer mal wieder. Wenn man an der Regierung ist, kann man gar nicht vermeiden, von der FDP angesprochen zu werden. Mitten in der letzten Legislaturperiode hat selbst bei uns ein Fraktionsvorsitzender wegen einer Ampelkoalition vorgefühlt, obwohl wir gleichzeitig von der FDP öffentlich wüst beschimpft wurden.

Schröder hat als Bedingung für die Fortsetzung der Koalition von den Grünen wirtschaftsfreundlicheres Verhalten verlangt.

Wir haben in den letzten vier Jahren keine Differenzen bei der Sicherung von Arbeitsplätzen gehabt. Als feindlich hat selbst die Wirtschaft die rot-grüne Regierung nicht angesehen. Vielleicht sehen mache Unternehmer es nicht gern, daß Rot-Grün so nachdrücklich auf Umsteuern in der Umweltpolitik setzt. Das immer beschworene rot-grüne Chaos hat sich jedoch als Luftblase erwiesen.

Gerhard Schröder will die Koalition außerdem nur mit einem gemäßigteren atompolitischen Programm fortsetzen, das nicht mehr zu ständigen Konflikten mit dem Bundesumweltminister führt.

Gerhard Schröder wird seine Position zur Atomenergie ändern müssen. Eine Politik des Wiedereinstiegs, garniert als Ausstiegsdiskussion, wie er sie in den Energiekonsensgesprächen vertreten hat, ist mit uns nicht machbar. Diese hat ja selbst in der SPD keine Mehrheit. Wenn ich Gerhard Schröder außerdem richtig verstehe, tritt er ja nebenbei auch noch für einen anderen Umweltminister in Bonn, für einen Regierungswechsel im Bund ein.

Schröders Wahlziel ist die absolute Mehrheit der Mandate, und die könnte ihm nach der Wahlarithmetik die FDP bescheren, wenn sie die fünf Prozent knapp verfehlt. Die Grünen schauen zu.

Absolute Mehrheiten liebt die Wählerin keineswegs. Sie sind schädlich, weil politische Auseinandersetzungen, die ansonsten zwischen Koalitionspartnern stattfinden, zu Parteistreitigkeiten hinter verschlossenen Türen werden. Absolute Mehrheiten institutionalisieren den Parteiklüngel auf Staatsebene. Die niedersächsische SPD könnte sich eine absolute Mehrheit in Niedersachsen nur erschleichen. Sie müßte gegen den Bundestrend ihr letztes Wahlergebnis halten und ansonsten darauf hoffen, daß möglichst viele Stimmen unter den Tisch fallen. Von einer absoluten Mehrheit der Stimmen ist Gerhard Schröder sehr weit entfernt.

Eher werden wohl die Grünen am Wahlabend der FDP heimlich die Daumen drücken.

Wir wollen so stark werden, daß an uns niemand vorbeikommt.

Der erste Wahlkampf nach vier Jahren Rot-Grün, aber Ihre Partei verkauft diese Zeit nicht gerade als Erfolg.

Das sehe ich anders. In unserem Wahlkampfmaterial und auf unseren Veranstaltungen werden unsere Erfolge schon gebührend herausgestellt: Da wird keineswegs verschwiegen, was wir in den letzten vier Jahren für die Sicherung von Bürgerrechten getan haben, etwa durch ein neues rechtsstaatliches Polizei- und ein Verfassungsschutzgesetz. In Niedersachsen müssen heute in den Gemeinden hauptamtliche Frauenbeauftragte eingestellt werden. Es gibt ein Verbandsklagerecht der Umweltschutzorganisationen. Die Ausgaben im Bildungsbereich wurden in den letzten vier Jahren um eine Milliarde erhöht. Hinter dieser Bilanz müssen wir uns nicht verstecken. Es gibt genug gute Gründe, um Rot-Grün fortzusetzen und dafür Grün zu wählen.

Aber die Grünen sind lustlos in diesen Wahlkampf gezogen.

Nun, es hat die Motivation der Grünen Partei sicherlich nicht gesteigert, daß Plakate aufgelegt wurden, die beinahe nur mit der Lupe lesbar waren. Aber auch dies haben wir überwunden. Beim Landesverband wurden noch nie so viel Programme angefordert wie vor dieser Wahl. Das signalisiert eine Rückkehr zu den Inhalten. Die Veranstaltungen sind wesentlich besser besucht als vor vier Jahren. Inzwischen haben wir in den Kreisverbänden eine optimistische Stimmung.

Interview: Jürgen Voges

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen