Schindler und die Schüler

Geschichtsunterricht im Kino / Berliner Schulklassen sehen Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ / Ein zwiespältiges Erlebnis zwischen Popcorntüten und vollgeschnieften Tempos  ■ Von Bascha Mika

Sieben Klassen stürmen den Kinosaal. Es ist neun in der Früh. „Eh, geil, keine Schule!“ – „Mensch, paß doch auf, wo du hintrittst!“ Da wird gedrängelt, gepufft, gejohlt. Berge von Gummibärchen werden rangeschafft, literweise Cola und stapelweise Ritter- Sport. Die SchülerInnen der Ernst- Abbe-Oberschule haben Wandertag. Doch sie verbringen ihn im Kino. Mit „Schindlers Liste“. Zwei Klassen einer anderen Schule haben sich angeschlossen.

Steven Spielbergs Film über die Nazigreuel ist ein Versuch. Ein filmästhetischer, ein moralischer, ein politischer. Zum Experiment wird der Film, wenn Jugendliche vor der Leinwand sitzen. So wie im Berliner Filmpalast. Achte und elfte Klassen versinken in den Plüschsesseln. Das wird zum Erlebnis der eigenen Art zwischen raschelnden Popcorntüten und vollgeschnieften Tempos.

„Am Anfang war er ein Hallodri“, weiß Gonca über Oskar Schindler, „hat viel getrunken, mit Frauen rumgemacht und sich mit der SS getroffen. Später hat er dann Juden abgekauft und über tausend das Leben gerettet.“ Schindler, der Held und Halunke, dessen Leben den Stoff abgibt für Spielbergs neueste Produktion. „Nee,“ meint die siebzehnjährige Gonca, „eigentlich fürchte ich mich nicht vor dem Film. Bin nur total gespannt. Hab' gehört, daß man sich keinen Moment langweilt.“ Sarah, die vor ihr sitzt, schaltet sich ein: „Glaub ja nich, daß man durch den Film was lernen kann.“ – „Vielleicht ja doch“, unterbricht David, „als wir damals mit der Klasse in Sachsenhausen waren, war das doch auch wichtig.“

Licht aus. Die Vierzehnjährigen kreischen wie auf der Achterbahn. Ein paar pfeifen. „Könnt ihr nicht das Maul halten?“ brüllt einer aus der Reihe der Älteren. Und während sich auf der Leinwand das Blaken einer Kerze in den Rauch einer Lokomotive verwandelt, wird im Kinosaal kontrastreiche Untermalung geliefert: ein konstanter Teppich aus Geknister, Gemurmel, Gekicher.

Da widerspricht eine im Film und wird erschossen. Einer hat nur einen Arm und wird erschossen. Eine sitzt einfach da und wird erschossen. Da steht der Nazischlächter Amon Göth frühmorgens entspannt auf seinem Balkon und legt erneut das Gewehr an die Schulter. „Oh weia, jetzt schießt er schon wieder“, stöhnt ein Mädchen im Saal und versteckt schnell das Gesicht in den Händen. „Oh, Scheiße, jetzt geht's ins KZ“, flüstert es vorne links. Drei Reihen dahinter prustet einer los. Sein Nachbar stößt ihm den Ellbogen in die Rippen: „Mensch, findste das komisch?“

Bei den Kleinen im Saal herrscht reges Treiben. Mal geht's zum Klo, mal zum Rauchen, mal zum Stand mit den Süßigkeiten. Die Großen sitzen da und rühren sich kaum.

Amon Göth steigt zu seinem jüdischen Dienstmädchen in den Keller hinab. Sie steht da, die Angst schüttelt sie. „Ist das das Antlitz einer Ratte?“ fragt er und packt ihr Gesicht. „Ja!“ antwortet es fröhlich aus einer Ecke des Kinos. Die Nazischergen treiben die Menschen nackt über den Appellplatz zur Selektion – zwei Mädchen im Saal lachen schrill.

Eine Freundin von Gonca springt auf. Schnappt ihre Tasche, quetscht sich aus der Sitzreihe und stolpert zum Ausgang. Draußen, im Licht des Kinofoyers, glänzen ihre Augen rot und verheult. Zwei Vierzehnjährige, die mal Pause vom Massenmord machen, um sich Augen und Lippen im Foyerspiegel anzumalen, starren sie an. Hastig läuft sie an ihnen vorbei auf die Straße.

Drinnen geht Auschwitz weiter. Rampen, Gaskammern, Schornsteine. Stille: Nach mehr als zwei Stunden plötzliche Ruhe im Publikum. Von Auschwitz haben offenbar auch die Achtkläßler schon gehört. Selbst ihre Popcorntüten knuspeln nicht mehr. Ruhig war es vorher nur, wenn ein Kind auf der Leinwand erschien. Bis zum Abspann des Films werden jetzt selbst die Jüngeren leise bleiben. „Zur Erinnerung an über sechs Millionen ermordeter Juden.“ Die Schrift flimmert auf der Leinwand, ein Stimmchen fragt: „Was? So viele?“

Verhalten trottet die Schülerschar aus dem Kinosaal ins Foyer. Kaum jemand redet. Mädchen halten zerkrümelte Tempos zwischen den Fingern, hier weint noch eine. Die Jungs starren vor sich hin. Da versucht einer schüchtern schon wieder zu grinsen. Auf der Straße vor dem Kino fangen zwei Kleine an, „Jude und Amon Göth“ zu spielen.

* * *

Gonca, Sarah, David und sechs weitere SchülerInnen verziehen sich ins nächstliegende Café. Es ist eine bunte Runde. Bianca: Mutter Polin, Vater Roma, aufgewachsen ist sie in Deutschland und Polen. Ender und Chalid begreifen sich als Türken. Gonca findet, das mit den Nationalitäten sei sowieso alles Quatsch, sie fühlt sich einfach „als Mensch“, genauso wie Ives. Bei André kommt ein Elternteil aus Bangladesch; David, Sarah und Jessica haben jüdische Namen – purer Zufall. Sie sind zwischen siebzehn und achtzehn.

Die Kleinen im Kino, stellt die Runde der Großen zunächst pädagogisch fest, wären einfach überfordert gewesen, hätten doch nichts begriffen und keine Ahnung von der Nazizeit. Bestimmt müßten sie sich auch gegen die Scham schützen mit ihren dummen Sprüchen und dem Gekicher.

Chalid: Ich fand den Lagerkommandanten Göth am beeindruckendsten. Er war zwar ein Mörder, hatte am Schluß aber doch noch ein gutes Herz.

Jessica: Was?

Gonca: Hast du 'nen Knall?

Chalid: Er hat doch aber die Schindler-Juden am Ende gehen lassen ...

Bianca: Ist doch nicht gutherzig, wenn er sie verkauft.

André: Er hat ja noch „Heil Hitler“ gerufen, als er gehängt wurde.

Chalid: Aber er war nicht ganz kaltblütig ...

Bianca: Natürlich! Steht auf seinem Balkon und macht seine Schießspiele ...

Chalid: ... er wollte ja sogar sein Hausmädchen retten und mit nach Wien nehmen.

Sarah: Der war doch total gestört.

Chalid: Gefallen hat er mir ganz und gar nicht. Ich fand es nur irgendwie ansprechend, daß er am Schluß doch nicht so ganz kaltblütig war.

Jessica: Und daß er den jüdischen Jungen erschossen hat? Einfach so? Sind ja keine Menschen ...

Sarah: Bist begnadigt, hat er gesagt. Und dann: peng!

* * *

Da streiten die SchülerInnen über ihren Colagläsern und Teetassen heftig über die beeindruckendste Figur im Film. Fast läuft der Buchhalter Itzhak Stern der Hauptfigur Schindler den Rang ab. An Schindler sei zwar toll, erklärt André, daß er sich von einem kaltblütigen Geschäftsmann weiterentwickelt habe. Aber schließlich sei diese Veränderung nur Stern zu verdanken. Außerdem, fügt Bianca entschieden hinzu, sei Schindler doch der reinste Sexist. Wer wollte da widersprechen?

Hart sei der Film, darin sind sich die neun in ihren zu großen Pullovern und Jeans einig. Und am liebsten würden sie jetzt erst mal Ruhe haben, statt in der Gruppe zu sitzen und zu reden.

Ender: Es ist ein Problem der Deutschen, daß sich viele so schuldig fühlen. Zu viele hier sagen: die armen Juden. Sie sollten sich mal ansehen, was in Palästina passiert.

Chalid: Ja, aber die Deutschen haben wirklich keine gute Vergangenheit gehabt.

Bianca: Das mit den Nazis hätte auch woanders spielen können. Aber es ist kein Wunder, daß es hier passiert ist. Wer ist sonst schon so diszipliniert und gehorsam.

Ives: Man kann sich heute in unserem Alter nicht mehr schuldig fühlen. Was nicht heißt, daß man die Vergangenheit vergessen darf. Vor allem nicht, wenn man den ganzen rechten Dreck auf der Straße sieht.

André: Aber die Rechten gucken sich den Film sowieso nicht an.

Sarah: Die Mitläufer könnte der Film vielleicht noch beeindrucken. Aber wenn jemand so richtig überzeugt ist ... Die Schwächeren, die noch nicht so richtig wissen, da kann man vielleicht ...

Jessica: Also, die Rechten, die ich kenne, die würde das nicht beeindrucken. Da kann man noch so viel Geschichtsunterricht haben, und noch so viele Filme sehen.

Bianca: Ich kenn' überhaupt keine Rechten. Mit so was freunde ich mich doch nicht an!

Ives: Entweder, die sehen sich den Film gar nicht erst an. Oder, wenn sie reingehen, würden sie sich darüber totlachen und danach ein Bier trinken.

* * *

Noch nie habe er etwas über die Nazizeit gesehen, das ihn so berührt hat wie „Schindlers Liste“. Endlich mal ein Nazi-Film, sagt André, wo die Deutschen nicht nur als das reine Böse daherkämen. Warum sollte man einen Film über den Holocaust nicht so machen? Filme müßten sich verkaufen und unterhaltsam sein. Spielberg treffe die richtige Mischung aus Aufklärung und Unterhaltung, betont die Kaffeehausrunde. Noch vor zehn Jahren, meint André, wäre man mit weniger Gewaltszenen ausgekommen. Aber heute sei genau dieses Maß notwendig. So kann man Kids für das Thema interessieren. Wenn Spielberg dabei sein Image ausnutzt – ja und? Wer den Film sieht und als Entlastung für die Deutschen begreift, spinnt in den Augen der SchülerInnen.

André: Ist gerade wichtig gewesen, den Film über Schindler zu machen. Es entlarvt nämlich die meisten Deutschen, die immer sagen, sie hätten nichts gewußt und sie konnten nicht helfen.

Gonca: Der Film zeigt doch: Wenn mehr Leute gewollt hätten, hätte es mehr Schindlers geben können.

André: Die Gefahr ist doch höchstens, daß der Film zur Modewelle wird. Daß alle sagen: toller Film, haben auch ein bißchen geheult, aber das war's dann.

* * *

Und die neun? Haben sie am Ende geweint? Gonca verzieht verärgert die Brauen. Wieso am Ende? Die ganze Zeit habe sie geheult. Die Mädchen nicken, die Jungs kramen mit ihren Blicken auf dem Boden. Unwillig guckt dann doch einer hoch. André. Na ja, gibt er mit schiefem Lächeln zu, die Augen seien einem schon feucht geworden. – Sicher werden die Zuschauer weinen, hat Spielberg prophezeit. „Aber sie werden nicht über das weinen, was sie über die handelnden Personen erfahren haben, sondern deshalb, weil es das mindeste ist, was sie tun können.“