Formschwäche ist noch kein Machtwechsel in Bonn

■ Keine Wahl, ob Landes- oder Kommunalwahl, wird das Ergebnis des 16. Oktober vorweg- nehmen: Die neue Beweglichkeit der WählerInnen garantiert die Unberechenbarkeit von Wahlen

Die WählerInnen haben ihre Experimentierphase hinter sich. Ein paar Wahlen lang haben sie gezeigt, wozu sie fähig sind. Sie werden das nicht vergessen, unter anderen Bedingungen werden sie es auch wieder tun. Es ist nicht so, daß sie nun „vernünftig“ geworden wären. Sie haben endlich eine politische Aufgabe bekommen: zu entscheiden, ob es in Bonn einen Wechsel gibt und in welche Richtung er gehen soll. Am stärksten mobilisieren Wahlen bei offenen Situationen, bei Kopf-an-Kopf- Rennen, einem Personenduell, der Chance zum Machtwechsel.

Die Bundestagswahl strahlt aus auf die vielen Vorlaufwahlen. Es sind alles keine „Testwahlen“ im strengen Sinne. Keine einzige Landes- oder Kommunalwahl – und schon gar nicht die Europawahl – wird das Ergebnis des 16. Oktober vorwegnehmen. Die WählerInnen differenzieren weiter, kennen die Besonderheiten ihres Landes, der KandidatInnen, der Situation. Aber sie interessieren sich mehr für Politik, sie gehen sogar in die Wahlversammlungen, sie beteiligen sich an den Wahlen, sie sind kognitiv und sozial mobilisiert.

In ihrer Experimentierphase waren die WählerInnen ebenso ernsthaft wie jetzt, im Ernstfall. Auch jetzt beteiligen sie sich an einem Experiment: dem Machtwechsel. Der Reiz des Neuen ist das, was nur alle zwölf bis 16 Jahre ansteht: der Machtwechsel in Bonn, das größte politische Risiko in der Republik, zugleich die größte politische Chance. Die Vermutungen der letzten Monate haben sich bestätigt: Wir könnten im Herbst ein wieder ganz konventionell zusammengesetztes Parlament, aber eine neue Regierung haben. Je mehr sich der Eindruck verstärkt, die CDU sei am Ende, desto gefährlicher wird sie. Die neue Beweglichkeit der WählerInnen und die paradoxen Effekte, die Wahlforscher heute mindestens so gut beherrschen müssen wie Statistik, garantieren die Unberechenbarkeit von Wahlen. Ein schlechtes Wahlergebnis wie das der CDU in Niedersachsen führt nach Abstrafung zu einem positiven Votum, nicht bei der nächsten Landtagswahl – dort will man auch noch sein reinigendes Gewitter –, aber bei der Bundestagswahl, wenn alle Unsicherheiten, Ängste und eingespielten Interessen beschworen werden. Mit dieser Möglichkeit ist zu rechnen. Die CDU/CSU hat noch nicht verloren.

Die Formschwäche, das Abgewirtschaftete, das Fehlen positiver Symbole – alles unbestreitbar. Aber vieleicht heißt „Sozialdemokratisierung der CDU“ im Herbst auf den Plakaten „Den Aufschwung wählen“. Auch die Gegenmobilisierung gegen Rot- Grün, die außenpolitischen Risiken, wer weiß, was sich noch alles zusammenrühren läßt. Die bürgerlichen Parteien sind in den Strukturen verankert, sie haben ihre Reserven noch nicht ausgespielt. Der bürgerliche Block verfügte bei der letzten Bundestagswahl über knapp 55 Prozent, mit einem Vorsprung vor Rot-Grün von mehr als 16 Prozent. Wenn die CDU/CSU in Bonn fünf Prozent verliert, ist sie immer noch stärkste Partei. Wenn die SPD fünf Prozent dazugewinnt, ist sie nach wie vor nur zweitstärkste Partei.

Für eine Leichenrede auf die FDP ist es zu früh

Wer das Land regieren wird, hängt ganz wesentlich von den Sozialdemokraten ab. Eine rechnerische Mehrheit für SPD und Grüne ist noch keine rot-grüne Mehrheit. Die sozialdemokratische Wählerschaft ist gespalten zwischen denen, die mit bürgerlichen Parteien (vor allem FDP) zusammengehen wollen, und jenen, die Rot-Grün bevorzugen. Die Arbeitsteilung in Niedersachsen war ja nicht schlecht: die Grünen als der rot- grüne Reformmotor, die SPD als in das CDU-Feld ausgreifende Industriepartei mit ökologischem Leichtgepäck. Nicht das Nullsummenspiel zwischen SPD und Grünen, sondern die Rechtsverschiebung der SPD mit reformpolitisch nachsetzenden Grünen – diese Umverteilungsstrategie von rechts nach links hat sich in Niedersachsen bewährt. Diese Strategie birgt allerdings – wie jede andere – auch einige Risiken.

Eins davon ist am Sonntag eingetreten: Die SPD hat die absolute Mehrheit und macht die Grünen als Regierungspartei überflüssig. So bitter das für die niedersächsischen Grünen mit ihrem schönen Stimmengewinn ist, aus der Gesamtperspektive rot-grüner Lerngeschichte entsteht daraus ein Plus: Endlich und erstmals auf Landesebene haben die Sozialdemokraten mit Rot-Grün ein Erfolgserlebnis gehabt. Absolute Mehrheit ist, bei besonderer Konstellation, nur auf Landes-, nicht auf Bundesebene möglich. In Bonn wird uns im Herbst ein anderes Risiko dieser Strategie beschäftigen: Geht die SPD mit den in der Mitte gewonnenen WählerInnen in eine bürgerliche Koalition?

Für Scharpings SPD war es eine Testwahl. Bleiben die Tester nüchtern, können sie nur festhalten: Im Frühjahr mit dem Kandidaten Schröder half das Rezept Scharping. Das hieß: Monothema Arbeitsplätze und „Der Verfall der SPD wird in der Mitte gestoppt“. Früher hieß die Maxime „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“, aber die SPD hat nicht dazu „gewonnen“, sie hat ihren Anteil gehalten. Schröder hat aus einer rot- grünen Koalition heraus einen Wahlkampf nach dem Muster Scharping geführt und hätte – ohne den Lotteriegewinn der absoluten Mehrheit – Rot-Grün fortgesetzt. Also kann Scharping mit einem solchen Wahlkampf auch in eine rot-grüne Regierung hineinführen.

Vergessen wir über der konstruktiven Unzufriedenheit, die in die Perspektive des Machtwechsels eingeht, nicht den Protest. Das Auf und Ab des Rechtsradikalismus zeigt, daß sein Protestanteil mindestens so groß ist wie sein stabiles ideologisches Fundament. Es ist auch nicht in erster Linie die Stärke der etablierten Parteien, die uns vor dem parlamentarischen Rechtsradikalismus bewahren, sondern die Schwäche des Rechtsradikalismus selbst. Was wäre los im Land, wenn er eine effektive Formation und einen Führer gefunden hätte. Auch er ist in den Strukturen stärker verankert, als am Sonntag sichtbar wurde. Er bleibt eine Gefahr. Vermutlich wird er bei der Europawahl noch einmal kräftig Auftrieb erhalten, weil dort der Stimmabgabe noch weniger als sonst überschaubare Folgen zuzurechnen sind.

Protestgruppen ohne Großthema wie zum Beispiel die Statt- Partei profitieren von der Malaise der anderen Parteien. Sie sind meist am Ende, wenn der Trend gebrochen wird. Es sieht so aus, als hätte dieser Mitte-Protest im Jahre 1994, das vom Machtwechsel- Thema beherrscht wird, schon ausgespielt. Auch diese Variante des Protests wird wiederkommen. Die Bürger lieben ihre Parteien nicht und wollen ihnen das sagen, auch wenn sie keine Alternative kennen. Und was fällt uns zur FDP ein? Für eine Leichenrede ist es zu früh, weil die Liberalen auf Landesebene strukturell immer schwächer waren als im Bund. Wir werden aber am Text dieser Rede arbeiten. Joachim Raschke

Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaft an der Uni Hamburg.