Primär soziale Abstandshalter

■ Mode, Sport und Politik: Ein Sammelband mit Texten von Pierre Bourdieu zur Sache und zu seinem Selbstverständnis

„Statistiken über Schlafanzügekonsum zu lesen und dabei an Kant zu denken, ist evident nicht“, meint Pierre Bourdieu, Autor der 1979 (in deutsch 1982) erschienenen „Feinen Unterschiede“, und tut es trotzdem. In seinem „Opus Magnum“ ging Bourdieu der französischen Geschmackskultur auf den Grund. Er wollte die Mär von der Naturgegebenheit des Geschmacks begraben und belegte in Fragen des Sports, der Küche, der Inneneinrichtung, des Schlagers und Films, daß jede Gesellschaftsklasse ihr eigenes „Klassifikationsschema“ anlegt. Sie stülpt es jeweils über die Objekte der „legitimen“ wie der „ordinären Kultur“, über E-Musik wie Zahnpasta. Es entstand ein amüsantes wie aufklärerisches Werk mit einem klassentheoretischen Bezugsrahmen, der einen Weg bot, die „sakralen Schranken“ zwischen Kultur-, Freizeit- und politischer Soziologie niederzureißen.

Einen kleinen Abriß Bourdieuscher Ambitionen liefert der soeben erschienene Sammelband „Soziologische Fragen“ mit Aufsätzen, Reden und Interviews der Jahre 1972 bis 1980 (Originaltitel „Questions de sociologie“, 1980). Angsprochen werden zentrale Begriffe wie „Habitus“ und „Feld“ und in Einzelanalysen zu Mode- und Geschmackswandel, Meinungsforschung und Sportentwicklung fruchtbar gemacht.

Kaum jemand weiß, daß Sportarten wie Rugby und Fußball Ableger volkstümlicher Spiele sind. Bürgerliche Eliten haben sie in die Schule integriert, „Charakterschulung“ mit ihnen betrieben, um sie schließlich als leicht verdaulichen Massensport dem Massenpublikum „zurückzugeben“. Was das Phänomen Sport für Bourdieu und seine Schule interessant macht, ist die Funktionsweise des klassenspezifischen „Habitus“. Er umfaßt alles, was dem Körper gesellschaftlich aufgedrückt wurde – Gesten, Mimik und Manieren. Der Habitus ist diejenige Einflußgröße, die die Menschen im Eßverhalten, Sporttreiben und in der Wahl des Schönheitsideals steuert: Bei den Unterschichten herrscht demnach das Körperbild des „Werkzeugs“ und begründet den Hang zu kräftigen bis fetten Speisen, die Liebe zu Kraftsportarten und etwas fülligeren Figuren.

Bourdieu hat den Ehrgeiz, „Soziologische Fragen“ einem größeren Leserkreis nahezubringen und sehr abstrakte Begriffe auf sehr konkrete Gegenstände zu beziehen. Denn: „Die Soziologie wäre keine Stunde der Mühe wert, sollte sie bloß ein Wissen von Experten für Experten sein.“ Anstelle einer Einführung in die Sozialforschung stellt er ketzerische Fragen an ein unter Soziologen häufig unreflektiertes Verfahren: Trennwände errichten und den derart getrennten Gegenständen Methoden zuordnen. Nach altem Muster kommt Materielles artig in den Topf der Ökonomen, Kultur dagegen behält die Aura des Idealen und Interesselosen. Daraus motiviert sich für Bourdieu eine „Soziologie der Soziologen“.

Gut ein Drittel der Aufsätze und Reden reflektiert die Rolle des Soziologen, der in Bourdieus Augen mit gutem Recht eine entlarvende, unsere Alltagssicht zersetzende Wissenschaft betreibt. Im Unterschied zu seinen Landsleuten André Glucksmann und François Lyotard, die seit Mai 1968 dem Intellektuellen samt der Philosophie das Totenglöckchen läuten, hält er an einer emanzipatorischen Soziologie fest. Aus diesem Geist entstand auch Bourdieus Aufruf zu einer „Internationalen der Intellektuellen“ im Herbst 1993, die die mut- und ideenlose Politik aufmischen soll.

Kritiker einer entlarvenden Soziologie wie der Bielefelder Niklas Luhmann machen ihr denn auch die Gegenrechnung. Sie weisen auf desillusionierte Subjekte hin, denen der Ideologiekritiker ein Zuviel an komplexer Weltsicht verpaßt hat. Folglich müßte der Soziologe behutsam mit den armen Menschen umgehen und sie in ihren lebensdienlichen Illusionen – im Sinne des Status quo – belassen. Bourdieu pariert diese These vom Orientierungsdefizit überzeugend. Er ist sich sicher, daß „die sozialen Verhältnisse weniger unglücklich wären, wären die Menschen wenigstens in der Lage, die Mechanismen zu kontrollieren, die sie dazu bringen, zu ihrem Unglück und ihrer Misere selbst noch beizutragen“. Ein wissenschaftlicher Trick der Verschleierung besteht darin, Forschungsgegenstände zu hierarchisieren. Verschleiert wird damit, daß in unterschiedlichen „Feldern“ der Gesellschaft das selbe Spiel getrieben wird: Ob in Sport, Politik oder Mode, primär geht es darum, den Abstand zur nächst tieferen Klasse zu markieren.

Ihre Sprache hat den Soziologen selten große Beliebtheit eingebracht. Auch Bourdieu kann den Widerspruch nicht ganz entkräften, daß sein schwieriger Sprachstil gerade das von ihm angeprangerte Expertenmonopol unterstützt. Andererseits leuchtet es ein, mit Bourdieu dem allseitigen Ruf nach „gesundem Menschenverstand“ zu mißtrauen. Denn der Appell ans Eingängige ist oft nur ein Widerstand gegen soziologische Entlarvungen.

Bourdieus komplexer Stil hat auch seine guten Gründe. Denn seine häufigen Satz-Labyrinthe zeigen, daß er gerne dreihändig arbeitet: Mit einer Hand greift er nach Gegenständen, mit der zweiten reißt er die alten Zäune zwischen den Gegenständen weg, und mit der dritten faßt er sich an den Kopf, um zu ergründen, was seine Rolle dabei ist. Gerd Michalek

Pierre Bourdieu: „Soziologische Fragen“. Suhrkamp Verlag Frankfurt 1993, 256 Seiten, 19,80 DM.