■ Straßen-Umbenennungen
: Der Druck der öffentlichen Straße

Schönwetter-Demokratie nenne ich das. 1966 entschied das (West-)Berliner Abgeordnetenhaus, daß Straßenumbenennungen Bezirksangelegenheiten sein sollen. Das ging jahrelang gut. Wenn nun aber die Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain nicht die Entscheidungen treffen, wie es sich der Verkehrssenator Haase vorstellt, ist mit der Demokratie Schluß. Herr Haase nimmt den Bezirken die Kompetenz weg und entscheidet selbst.

Die angeblich „unabhängige“ Kommission zur Benennung von Straßen, die ganze sechsmal, und meist unvollständig, getagt hat, hat für den Verkehrssenator eine Umbenennungsliste ausgearbeitet, die eigentlich nur Kopfschütteln provozieren kann. Die Kommission, deren Mitglieder alle, bis auf den Alibi-Ossi Prof. Demps, aus den westlichen Stadtteilen stammen, meint, es sei in Berlin kein Platz mehr für die Frauenrechtlerin Clara Zetkin, die Widerständlerin Käte Niederkirchner und den Antifaschisten und Spanienkämpfer Hans Beimler.

Ich freue mich schon jetzt auf die Berliner Gerichtsprozesse, denn Umbenennungen sind laut Verwaltungsrichtlinien nur zulässig, wenn die Namensgeber aktive Wegbereiter der Nazis oder der SED-Diktatur waren. Das kann man aber wohl kaum der Sozialistin Zetkin in die Schuhe schieben. Im übrigen ist es für eine republikanische Gesellschaft sehr merkwürdig, die Frauenrechtlerin Zetkin gegen eine Königin Dorothea auszutauschen.

Daß die Kommission die Finger von Rosa Luxemburg, dem sozialistischen Journalisten Max Beer oder dem in der Novemberrevolution 1918 erschossenen Erich Habersaath gelassen hat, ist sicherlich auf den starken Gegenwind zurückzuführen, den sie in den letzten Wochen erfuhr. Ein Erfolg der kritischen Öffentlichkeit! Man mag, wie die Kommission, bedauern, daß bis heute keine Straße nach dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger oder dem Bismarck-Berater Ludwig Bamberger benannt ist. Warum soll dafür aber die Dimitroffstraße umbenannt werden? Hätte man dafür nicht lieber eine der fünf Bismarckstraßen in den westlichen Stadtteilen nehmen sollen? Trotz der Tatsache, daß in den West-Bezirken bis heute immer noch etwa einhundert Straßenumbenennungen der Nazis gültig sind, scheint für die Kommission im Westen alles in Ordnung zu sein.

Ein dankbares Objekt der Geschichtsbewältigung wäre beispielsweise das „Fliegerviertel“ in Neu Tempelhof, wo sich heute noch die Namen von 16 „Fliegerhelden“ des Ersten Weltkrieges finden, die die Nazis am 21. April 1936, dem „Tag der Luftwaffe“, ehren wollten. „Nachsitzen“ ist für die Kommission angesagt. Jürgen Karwelat

Der Autor ist Mitglied der Arbeitsgruppe „Straßennamen“ der Berliner Geschichtswerkstatt.

Siehe auch Bericht auf Seite 21